Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
unseres Klosters im Jahr 42 des Dritten Zeitalters.
Was er noch finden konnte an zerrissenen Schriftrollen und halbzerfetzten Büchern seinerzeit … er trug es in unseren Mauernzusammen und verwahrte es. Ja, du denkst richtig, Finn! Auch im Davenkloster gibt es noch einige der Alten Bücher, aber nur wenige. Noch weniger sind darunter, die aus den alten Tagen vor der Gründung Benutcaers stammen. Eines ist, Aman sei Dank, erhalten geblieben, ein einziges nur: Es heißt ›lorc’hennië cromairénaë‹ und nur aus ihm wissen wir Davena von den Jahren der Unterweisung.«
»Die Jahre der Unterweisung?«, fragte Mellow. »Das klingt wie Unterricht beim alten Ludowig. Nur wer hat dabei wen unterwiesen?«
»Ich ahne es«, sagte Finn. »Die Menschen der Vor-Benutcanezeit wurden unterwiesen! Daher stammt das Wissen der alten Baumeister, richtig?«
Circendil nickte. »Wir nehmen es an, ja.« Er machte eine Pause, als überlege er, wie er das Folgende sagen sollte. »Ja, wir nehmen es an. Wenn die ›lorc’hennië cromairénaë‹ die Wahrheit sagt, dann kamen einst zwei miteinander verbündete fremde Völker über das Meer. Die Féar – und mit ihnen kamen die Dwarge.
Beide nahmen sich der Menschen an, die wie erwähnt noch in Fellen einhergingen, in den Wäldern hausten und kaum das Feuer kannten. Sie lehrten sie Felder zu bestellen, Kleider zu weben, Erze zu suchen und zu finden, Mauern zu errichten und sturmfeste Häuser zu bauen. Die Féar schenkten ihnen die Schrift, die Zahlen und lehrten sie viele nützliche Dinge: Vor allem brachten sie ihnen bei, alles, was schön ist, zu erkennen und zu verstehen. Sie brachten bisher unbekannte Pflanzen mit sich, und die Menschen lernten, Gemüse, Getreide, Obst und selbst Blumen, die einfach nur schön waren, um ihrer selbst willen, auszusäen, aufzuziehen und zu ernten. Die Dwarge indes brachten Werkzeuge und zeigten den Dirin, wie sie angefertigt werden konnten und wie damit umzugehen war. Kurzum, alles, was wir Menschen nutzen, und auch, was ihr Vahits heutigentags zum Leben und Arbeiten braucht und verwendet, alles dies verdankt ihr – wie wir – in seinen Ursprüngen jenen Ereignissen des Ersten Zeitalters: dem Wirken der Dwargeund der Féar. Ohne sie und die frühen Jahre der Unterweisung hätte es die Stadt Caras Benutcaer nie gegeben. Erst recht nicht die Königreiche der heutigen Dirin, und natürlich gäbe es ohne sie auch nicht das Hüggelland.«
»Ein Hoch auf die Dwarge!«, rief Mellow. »Wer immer sie auch sein mögen.«
»Und eines auf die Féar«, meinte Finn, bis er Circendils Gesicht sah. »Oder nicht?«
»Ein Hoch kann nie schaden«, antwortete Circendil. »Sofern es angebracht ist. Nur hat alles seine zwei Seiten in Yamun, wie wir sagen, und so verhält es sich auch in diesem Fall.«
»Yamun?«, fragte Finn, den die Gedankensprünge des Mönches zu verwirren begannen. »Was ist das nun wieder?«
»Wie das?«, fragte Circendil zurück. »Ihr habt nie davon gehört?«?«
Er seufzte und schüttelte halb ärgerlich, halb verwundert den Kopf, dabei Herrn Ludowig nicht unähnlich, wenn er einen begriffsstutzigen Schüler vor sich hatte. Sein Gesichtsausdruck wechselte, und plötzlich sah er milder aus und weniger verzweifelt. »Nun, du reitest gerade mitten hindurch, könnte ich sagen. Wir Davena verehren Aman, den Einen, der alles erschaffen hat. Und seine großartige Schöpfung nennen wir Yamun, das ist das Einzigartige Zweiteilige. Vindland, das Hüggelland, ganz Kolryn, alle Erdteile von Kringerde, Sonne, Mond, die Sterne, alle Dirin, Dwarge, Féar und Vahits: Alles ist Yamun.
Yamuns Zeichen aber ist der Buchstabe λ , der sich gabelnde Weg. Du findest es überall; blick dich nur um.«
Circendil machte eine weite, ausholende Armbewegung. »Jeder Baum, meine Freunde, jeder Ast, jeder Zweig und jedes Zweiglein bis hinab zum kleinsten Äderchen im kleinsten Blatt gabelt sich immer wieder und wieder. Jeder Fluss und jeder Bach zeigt dir Yamuns Zeichen grad eben dort, wo zwei zusammenfließen. Jede Ader in euren Leibern geht vom Herzen aus und verzweigt sich immerfort. Wenn Frau und Mann zusammenkommen, wird, wiezwei Wege, die zu einem werden, ein Kind daraus entstehen. Und jeden Tag, jede Minute deines Lebens stehst du an einem Scheideweg und musst dich entscheiden, ob du links abbiegst oder den rechten Weg wählst. Und jedes Ding, gleich welcher Art, hat zwei Erscheinungsformen: hell und dunkel, warm und kalt, hoch und tief, innen und
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