Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
erhaschte viele Zeilen, die in einer klaren Handschrift in blauer Tinte abgefasst waren. Ihm wurde mulmig zumute. Wie kam dieser Brief dorthin, unter Finns Arbeitstisch, wo Furgo ihn – ausgerechnet er – entdeckt hatte?
Es gab nur eine Erklärung. Und die gefiel Finn überhaupt nicht. Da sich der Brief unter Finns Schreibpult angefunden hatte, musste wohl oder übel Finn selbst ihn verlegt haben.
Wer Meister Furgo Fokklin kannte, der wusste, was das bedeutete. Einen Brief – womöglich gar den Brief eines Kunden – zu verlegen, das kam dem gröbsten Versagen gleich. Es war noch unehrenhafter, als Tinte anzurühren, die schlecht trocknete, oder eine, die verblasste. Oder Leder zu verschneiden oder eine Naht an einem Buch unsauber zu setzen. Oder … Finn gingen die Vergleiche aus.
Es spielte für Furgo keine Rolle, ob es der eigene Sohn war, der diesen Fehler begangen hatte. Oder ob einer seiner Gesellen der Übeltäter war. In geschäftlichen Dingen kannte der Meister keine Verwandten.
Furgo hielt den Brief in das Sonnenlicht, das schräg vom Fenster hereinfiel. Dann begann er, nach einem Räuspern und zwei vernichtenden Blicken, laut vorzulesen: »Was haben wir … ah, hier:
Von Banavred Borker
Der Turm
im Obergau
an Meister Furgo Fokklin zu Moorreet
Hochverehrter Meister Furgo,
ich hoffe, um Eure Gesundheit und Eure Geschäfte steht es wohl. Mir und meiner lieben Frau Anselma geht es leidlich gut, auch wenn das Reißen in den Gliedern mit jedem Jahr heftiger wird.
Die Arbeit schreitet derweil nur langsam voran, gleichwohl die Sonne scheint und ich die klaren Nächte nutze, wann immer es nur geht. Dennoch ist Anselma der Meinung, ich würde zu viel Tinte verbrauchen, jedenfalls mehr, als ich sollte. Dabei komme ich kaum zum Beschreiben all dessen, was ich am Himmel erkenne.
Der Zaun will geflickt sein, die Ziegen gemolken, und das Gras wächst zudem schneller als früher, will mir scheinen. Vielleicht hat Anselma Recht, und ich kleckse zu viel herum, denn die Vorräte gehen weitaus früher zur Neige, als ich glaubte, und nicht nur an Tinte wird es mir demnächst mangeln, sondern auch an Papier und einigen anderen wichtigen Dingen.
Bitte habt deshalb die Güte, Herr Furgo, und sendet mir mit nächstabgehender Gelegenheit das Folgende zu.«
Furgo ließ den Brief sinken und warf Finn einen strafenden Blick über den Rand des Papiers zu. »Dies«, sagte er mit bebender, fast lautloser Stimme, die Finn mehr fürchtete als alles andere, »dies ist eine Bestellung, Finnig. Die Bestellung eines Kunden! Du hast die Bestellung eines guten und obendrein treuen Kunden verlegt!«
Verlegt, dachte Finn mit zusammengepressten Lippen, war vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Verschlampt hatte er ihn. Ganz ohne Frage. In Eile oder Zerstreutheit irgendwo hingeworfen. Unlustig beiseitegeschoben, mit anderen Schriftrollen zugedeckt, unter auf dem Pult liegenden Büchern begraben. Wie auch immer, irgendwie musste der Brief dann unbemerkt bis an den hinteren Rand seines Schreibtisches gerutscht sein. Und er hatte sich, als besäße er ein Eigenleben, ebenso unbemerkt in die Tiefe gestürzt, in den dunklen Spalt zwischen Wand und rückwärtigem rauen Holz, um sich fortan in der Düsternis der Dielenecke, eng an die steinerne Mauer des Brochs geduckt, für eine Weile zu verstecken.
Finn konnte sich nicht einmal daran erinnern, den unglückseligen Brief je in Händen gehalten zu haben. Und er wusste überdies genau: Banavreds Brief wäre vollständig vergessen worden, wenn Finn nicht den losen Senkel am Stiefel seines Vaters bemerkt und dieser sich nicht plötzlich gebückt hätte, um ihn erneut zu schnüren. Und ausgerechnet er selbst hatte ihn noch darauf aufmerksam gemacht …
»Dieses seien …« , las Furgo nun die eigentliche Bestellung anklagend vor, »… ein Dutzend Fläschchen schwarzer Tinte. Desgleichen:
ein Dutzend dgl. in blauer Tinte;
in roter Tinte, ein Fläschchen;
dgl. in Grün; und, wenn Ihr habt, in Sonnengelb;
ein Halbdutzend in Leder gebundene Bücher zu fünfhundert Seiten;
grobe Geviertbögen, ein Gros;
Löschsand, einen Sack;
Federn, in groß, mittel und fein, wenigstens ein Dutzend von jedem;
eine gerade Schere sowie einen Stechzirkel, einen Fuß lang;
zwei Dutzend in Leinen gebundene Bücher zu zweihundert Seiten;
vier Anschnittmesser;
feine Tücher oder weiche Lappen, eine Kiste wird reichen;
und Leim im Gebinde, wie immer.
Ich wäre Euch überaus dankbar, wenn mich die
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