Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
zusammengesunken war.
»Was mag das wohl gewesen sein?«, fragte Mellow verwundert.
Finn zuckte mit den Schultern. »Wenn es ein Gasthaus war, haben sie es ziemlich herunterkommen lassen, finde ich.«
Mellow winkte ab. »Nein, im Ernst. Weißt du, wer das alles gebaut hat? Und wofür? Die Straße, meine ich. Oder diese hässliche Wand dort drüben. Und nicht zu vergessen der Turm, falls ich den je zu Gesicht bekomme …«
»Na, die Großen Leute«, antwortete Finn. »Wer sonst? Und ich wundere mich, dass du es nicht mehr weißt. Du saßt neben mir, soweit ich mich erinnere, als unser guter Witamáhirhöchstselbst uns mit dem ganzen alten Kram förmlich triezte. Herrn Ludowig war es höchst angelegen …«
»… jaja, und er war schon immer ein öder, trockener Knochen«, unterbrach ihn Mellow grinsend. »Außerdem bin ich entschuldigt; ich habe in seinen Stunden fest geschlafen.«
»Geschlafen? Im Unterricht eines unserer Schöffen? Und so jemand schützt unser Land!«, rief Finn vorwurfsvoll und grinste zurück.
»Wir schützen nicht, wir hüten «, antwortete Mellow mit erhobenem Zeigefinger und im selben Tonfall. »Deshalb tragen wir Landhüter nämlich diese Hüte, musst du wissen.«
»Haha. Das ist ein so alter Hut, der …«
»Warte!«, unterbrach ihn Mellow. Er ergriff Finns Arm. »Was istdas dort? Rauch?« Er deutete voraus. Ein dunkelgraues Band wand sich wie ein zerfaserndes Seil in den Himmel; der Wind trieb es bald auseinander und nach links von ihnen fort.
Die Stelle, von der der Qualm aufstieg, war noch etwa vier Meilen entfernt. Finn blinzelte, dann war er sich sicher. Ja, dort, wo der Rauch in den Himmel quoll, befand sich der Alte Turm. Noch ein Stück weiter, und die Baumkronen würden die Spitze nicht länger verdecken.
»Das ist mehr als nur ein kleines Feuer, wenn du mich fragst«, murmelte Mellow. »Hoffentlich nichts Schlimmeres als nasses Laub, das er verfeuert. Lass uns eilen, falls er Hilfe benötigt. Und erzähl mir derweil mehr von ihm. Warum lebt er hier draußen, allein mit seiner Frau?«
Finn schnalzte mit der Zunge, und Smod trabte schneller.
»Wie du aus dem Brief weißt, ist Herr Banavred ein Himmelsforscher«, hob Finn an. »Zumindest nennt er sich so. Er beobachtet des Tags mit geschwärztem Glas die Sonne, und des Nachts die Sterne – durch dicke Scheiben aus gewölbtem Glas. Frag mich nicht warum, das soll er dir selbst erklären. Er sagt, die Sterne lügen nicht, was immer er damit auch meint. Und diese Arbeit ist aus irgendeinem Grunde wichtig, den ich auch nicht verstanden habe. Jedenfalls schreibt er ein Buch nach dem anderen voll mit seinen Beobachtungen und Anmerkungen. Und er rechnet viel: Seitenlange Zahlenreihen hat er aufgeschrieben, und Winkel gezeichnet und Pfeile und Kreise und was nicht alles. Und er braucht dazu den Turm, sagt er. Ganz oben hat er sich ein Gemach eingerichtet, wo er ein Bett aufgestellt hat und einen Tisch zum Arbeiten. Manchmal bleibt er ganze Tage da oben. Zu viele Treppenstufen, meint er, und er sei nicht mehr der Jüngste. Außerdem hat er da oben ein langes Rohr aufgebaut. Seine eigene Erfindung, glaube ich. Da schaut er durch, und was in Wahrheit fern ist, sei darin völlig nah, sagt er.«
»Im Ernst? Wie soll das gehen?«
»Das habe ich ihn auch gefragt. Er meinte, es sei wie bei Tautropfen, an die du ganz nahe mit deinem Auge herangehst. Sie würden das vergrößern, was hinter ihnen läge.«
»Dann hat er Tautropfen in seinem Rohr?« Mellow schüttelte den Kopf; die Vorstellung war zu abwegig. Auch Finn musste lachen.
»Nein, Tau natürlich nicht. Er schiebt stattdessen die Glasscheiben ins Rohr und – ach, ich weiß auch nicht. Er sagte, er habe Glas geschmolzen und es so erkalten lassen, dass es gerade wie Tautropfen wirkt, wenn er hindurchblickt, das ist alles. Nenn es sonderbar, wenn du willst, aber er ist gewiss nicht verrückt, was immer auch die Leute reden mögen. Jedenfalls weiß er genau, was er tut, auch wenn er nächtelang damit in den Himmel hinaufsieht und sich darüber seine Gedanken macht.«
Mellow nickte. »Hast du auch in das Rohr geschaut?«
»Wer? Ich? Nein. Ich wollte es, ja. Natürlich, was denkst du denn? Herr Banavred bot es mir an, und ich sagte, danke, gern. Aber Papa wollte natürlich nichts davon wissen. Was ich mir hätte denken können. Unfug, blaffte er. Krimskrams. Und er trug mir auf, statt solcher Kindereien den Wagen abzuladen. Mich nützlich zu machen …«
»Na, dann freu
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