Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
Und überhaupt: Wieso kommen plötzlich Fremde auf die Linvahogath herauf? Seid misstrauisch allen Zufällen gegenüber, hat uns Herr Gesslo mehr als einmal eingeschärft. Irgendwo außerhalb des Hüggellandes muss etwas geschehen sein, was sowohl Saisárasar und seine Gidrogs als auch Circendil hier heraufgetrieben hat. Das lasse ich mir nicht ausreden, Finn. Wenn binnen zweier Tage unterschiedliche Leute eine abgelegene Gegend aufsuchen, in die sonst siebenhundert Jahre lang niemand kommt, dann besteht da ein Zusammenhang, darauf kannst du dich verlassen.«
»Ich fürchte, du hast nur allzu recht. Auch mir schwante Übles, als wir auf ihn trafen. Nichts, was von ihm unmittelbar ausgeht, meine ich – aber in der Folge durch ihn. Andere werden nach ihm kommen, Mellow. Das Hüggelland ist nicht länger verborgen. Und ich kann nicht einmal auch nur ahnen, was das für uns Vahits bedeutet.«
»Was soll es schon anderes bedeuten als einen ganzen Korb voller Schwierigkeiten? Streitereien. Krankheiten. Neid und Missgunst. Dagegen wird deines Vaters Zwist mit den Muldweiler-Fokklins zu einer anheimelnden Nettigkeit verblassen; du wirst es sehen. Mögen die Davenamönche vielleicht auch Ehrlichkeit in hohen Ehren halten – was aber ist mit den anderen? Es sind Menschen, Finn. Denk nur an Benutcaer! Wie auch immer: Aus irgendeinem Grund jedenfalls ist das Hüggelland dort draußen mit einem Mal wichtig geworden. Und ich fürchte, wenn wir diesen Grund erst erfahren,wird er uns erst recht nicht gefallen. Ich denke da vor allem an den Grund, warum die Dirin plötzlich so erpicht darauf sind, hier heraufzukommen!« Er stützte das Kinn auf die Hände, die auf seinen Knien lagen. »Nein, das wird uns ganz und gar nicht gefallen. Erinnere dich meiner Worte.«
Finn nickte und blickte ins Gras hinunter, wo der Griebsch seines Apfels lag. »Ach du liebes bisschen!«, entfuhr es ihm. »Wir haben Smod völlig vergessen. Er war nicht mehr vor den Wagen gespannt, daran erinnere ich mich; und dann habe ich ihn sozusagen aus den Augen verloren.«
»Wer ist Smod?«, fragte Gatabaid. Sie hatte das Gespräch der beiden genutzt, sich am Holunderstrauch bedient und jetzt war ihr Mund dunkel vom Saft der Beeren.
»Das Pony, das unseren Wagen zog«, antwortete Finn. »Ein braves und gutmütiges Tier, du würdest ihn mögen …«
»Vielleicht haben sie ihn in den Stall gestellt?«, überlegte Mellow.
»Da war kein Pony«, sagte Gatabaid und war plötzlich wieder den Tränen nahe. »Nur noch ein paar Schafe und Ziegen. Sie haben jeden Morgen eins an diese grässlichen Vögel verfüttert. Ich – ich glaube, sie sollten auch mich fressen!«
Sie schüttelte sich, lief zu Finn herüber und vergrub ihren Kopf an seiner Schulter. Eine Zeit lang schwiegen sie, und Finn streichelte über Gatabaids zuckenden Rücken, bis sie sich beruhigt hatte. Mellow und Finn sahen sich über ihre Schulter hinweg an. Sie würden Smod nicht lebend wiedersehen; das war in diesem bitteren Augenblick gewiss.
Sie warteten und fragten sich, ob es richtig war, was sie taten. Ob es nicht besser wäre, einfach zu verschwinden. Fortzugehen, ehe der Dir wieder auftauchte. Oder ob die Hilfe, die er versprochen hatte, sie wirklich weiterbringen würde. Wären die beiden Freunde allein gewesen, so hätten sie sich heimlich in die Büsche geschlagen. Sie hätten es irgendwie auf eigene Faust versucht, zurück ins Hüggelland zu gelangen. Doch Gatabaids verletzter Arm hielt sie zurück. Wenn es stimmte und der Mönch sich tatsächlich auf dieHeilkunde verstand, dann mussten sie um ihretwillen bleiben und einfach auf ihr Glück vertrauen. Als die Sonne ihren Mittagsstand erreichte, kehrte Circendil zurück.
Er trug seinen Umhang an den Zipfeln zusammengenommen wie einen Sack vor sich her. Als er bei ihnen in der Lichtung stand, setzte er ihn ab, kniete sich daneben und breitete den Inhalt vor ihnen aus. Allerlei Pflanzen fanden sich darin: Blüten, Wurzeln, Rinde, lose Blätter, helle Baststreifen und ein größeres, zusammengefaltetes Blatt, das weißliches Pulver enthielt, abgekratzt von irgendwelchen Baumstümpfen.
»Damit, Gatabaid«, erklärte er, »können wir deinem Arm Linderung verschaffen. Für die Entzündung hätte ich gern Kamillenblüten gehabt, aber sie wachsen hier oben nicht; dafür fand ich Goldruten, und sie tun es hoffentlich auch. Die Beinwellwurzeln werden wir zu einem Brei stampfen und ihn zusammen mit dem Schimmelpilzpulver auf die Wunde
Weitere Kostenlose Bücher