Der verkaufte Patient
fünf Hausärzte aus der Umgebung in unserem Esszimmer. Sie ließen gehörig Dampf ab. »Es geht uns an den Kragen«, sagte der eine, »die Politik treibt uns gezielt in die Pleite.« – »Die Patienten werden beschissen und betrogen und ausgenommen wie eine Weihnachtsgans!«, meinte der andere. »Längst geht es nicht mehr um die Gesundheit des Patienten; es geht nur noch um die Rendite von Fondsgesellschaften!« Wieder ein anderer meinte: »Meine ganze Alterssicherung steckt in meinerPraxis. Keiner will so einen unrentablen Laden kaufen. Was soll ich tun? Hartz IV beantragen?« Und wieder ein anderer meinte: »Kaum noch einer studiert Allgemeinmedizin. Zu Tausenden fliehen unsere jungen Ärzte ins Ausland. Dieses System will uns Hausärzte nicht.« Ich schaute in die Runde: »Das ist doch unglaublich. Wo bleibt die Politik?« Die Ärzte jaulten auf. Das nun hätte ich nicht sagen dürfen! Was folgte, hätte man am besten auf Video aufgenommen und in die Parteizentralen aller deutschen Parteien geschickt. Es hagelte nur so an wütenden, sarkastischen Bemerkungen.
Es war dieser Abend, an dem mein zunächst unbestimmter Zorn vom ersten Abend in kühle Entschlossenheit überging. Ich überriss die Situation: Wenn auch nur ein Bruchteil der Berichte und Beobachtungen stimmte, standen wir am Kraterrand des vielleicht heimtückischsten und folgenreichsten Politikskandals der deutschen Nachkriegsgeschichte: der
zur Ausplünderung freigegebenen Auslieferung des Patienten an den freien Markt
. Für Leben und Gesundheit seiner Bürger Sorge zu tragen ist eine der fundamentalen Pflichten des Staates. Was tut die Politik? Sie schlägt sich in die Büsche. Und nicht nur das. Sie mischt nach Kräften mit, so dass wir in wenigen Jahren mit einer Krebserkrankung nicht mehr zum Arzt, sondern zur nächsten Dependance der Chemiefabrik gehen.
Eine Woche später war ich bereits auf einer Protestveranstaltung von Ärzten (von der ich später erzähle), wieder eine Woche später hatte ich mich entschieden, eine Initiative zu starten. Meine Webmasterin kennt meine Entschlussfreudigkeit und legte sofort los. Innerhalb von Tagen stand die Homepage www.patient-informiert-sich.de . Ich war in einer Stimmung wie vor einer großen Schlacht.
Meine Entschlossenheit blieb von da an bis heute bestehen. Meine Recherchen bestätigten nicht nur die Aussagen der Ärzte, sie verschärften sogar deren Erlebnisse, ließen den gewaltigen Hintergrund einer einzigartigen Politikintrige erahnen.Nach und nach kamen immer neue Informationen auf meinen Schreibtisch, die sich fast wie von selbst zu einem Puzzle politischer Infamie zusammensetzten.
Während ich Recherche betrieb, quälten mich bohrende Fragen. Ich ließ sie zu, ließ mich verunsichern: Warum nur soll all das so schlimm sein? Sind wir alle nur ein wenig traditionell in unserem Denken? Festgefahren in alten Gewohnheiten? Fordert eine neue Zeit nicht eine neue Art von Medizin? Ließ ich mich vor den falschen Karren spannen? Wurden da vielleicht nur alte Erbhöfe verteidigt? Was soll schon so schlimm daran sein, wenn sich unsere Strukturen ein bisschen verändern, wenn wir Patienten uns ein bisschen umstellen müssen, wenn mal etwas an den ärztlichen Pfründen gekratzt wird, ein bisschen privatwirtschaftliche Power in das marode System kommt? Die Fakten, die auf meinem Schreibtisch landeten, redeten eine andere Sprache. Nein, ich redete mir nichts ein. Es ging nicht um einen Modernitätsschub oder um eine strukturelle Anpassung, der ich mich aus restaurativen Gründen verweigern wollte – es ging um die gezielte Zerstörung von etwas sehr Grundsätzlichem. Mir blieb Stephans Wort im Ohr: »Wir sind alle keine ›Ärzte‹ mehr …«
Der Patient – die wichtigste Person
So beschaffte ich mir Literatur und fragte meine neuen Freunde aus der Ärzteschaft: Was ist denn das eigentlich im Idealfall – ein »Arzt«, ein »Patient«? Ein süddeutscher Hausarzt schickte mir gleich eine ganze Tafel, die er in seinem Wartezimmer aufgehängt hatte: »Liebe Frau Hartwig, was ein Arzt letztlich ist, darüber denke ich nach dreißig Berufsjahren noch immer ergebnislos nach – aber was ein Patient ist, das weiß ich. Hier schicke ich Ihnen den Text, den ich vor Jahren irgendwo aufgeschnappt habe. Ich habe nicht herausgefunden, wer ihn eigentlich verfasst hat. Aber er ist in meinerPraxis die Arbeitsgrundlage für alle Mitarbeiter. Wenn ich jemand einstelle, muss er diesen Text lernen. Ich frage danach
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