Der verkaufte Patient
einem Arzt. Das hat einen einfachen Grund. Ich gebe dem Arzt ja nicht mein Haus, meinen Hund oder mein Vermögen in die Hand, sondern mein Leben.
Ich kann mir ja selbst nicht helfen –
das ist die fundamentale Situation. Was für eine Ungeheuerlichkeit: Ich komme zum Arzt und sage: »Ich gebe dir jetzt das Recht, mit mir etwas zu machen, das mich gesund macht. Du kannst mir ein Gift geben, das mich töten könnte, wenn du dich verrechnest. Ich gebe dir das Recht, dass du mir den Bauch, das Herz, den Kopf aufschneidest, wenn du meinst, es sei nötig.«
Wenn man es genau nimmt, gibt der Patient dem Arzt das Recht zur Körperverletzung. Analog gibt er einem Psychotherapeuten das Recht zur Seelenverletzung. Er tut das im sicheren Glauben, dass die Wunde, die der Arzt oder Psychotherapeut schlägt, letztlich zu seinem Besten ist. Der Patient ist der Ohnmächtige, der Arzt der Mächtige – ein unglaubliches, für die Heilung aber notwendiges Gefälle. Der Arzt braucht nämlich diese Rechte, er braucht diese Übertragung von Macht, damit er überhaupt etwas ausrichten kann. Warumübergibt sie ihm der Patient? Weil er zwei Dinge hat: erstens Angst und zweitens Vertrauen.
Die Angst besteht darin, dass er seine Gesundheit, ja sogar sein Leben verlieren könnte, wenn er allein an sich »herumdoktert«. Das Vertrauen besteht darin, dass der Patient einen echten »Arzt« findet, einen Menschen nämlich, dem er sich anvertrauen, dem er sich blind in die Hände geben kann. Der Arzt ist für den Patienten gewissermaßen
letzte Instanz
, und er verdient dieses Vertrauen. Generationen von Patienten haben in der Geschichte Vertrauen in den Stand der Ärzte gelernt. Bald muss man sagen: »Es gab« eine beeindruckende Kultur des Arztseins, in welcher Ärzte ihre Macht frei, dienend und verantwortungsvoll ausübten.
Der freie, nur seinem Gewissen verpflichtete Arzt, der nach bestem Wissen und Gewissen das Notwendige vornimmt oder verordnet, das ist das notwendige Gegenstück zum Patienten, der ein fast grenzenloses Vertrauen in seinen Arzt setzt. So war »Arztsein« immer mehr eine Berufung denn ein Beruf. Menschen mit einem hohen persönlichen Ethos fühlten sich davon angezogen. Wer Arzt wurde, musste nicht nur Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen besitzen sowie ein exzellenter Naturwissenschaftler sein – er musste sich durch eine hochentwickelte Kultur des Gewissens, durch die Fähigkeit zur Verantwortung und durch Rückgrat auszeichnen. »Ärztliche Verordnungen werde ich zum Nutzen der Kranken anwenden; vor Schaden und Unrecht werde ich sie bewahren«, schworen die jungen Ärzte einmal, als es noch angebracht schien, den Eid des Hippokrates von ihnen zu verlangen.
In einen Arzt Vertrauen setzen, das heißt sicher sein, dass der Arzt mein Bestes will. Er soll ganz und gar der Anwalt meiner Sache, meines Lebens sein; er soll so unbedingt zu meinem Besten handeln, als ginge es bei mir – diesem fremden Menschen – um sein eigenes Fleisch und Blut. Letztlich hat das ideale Verhältnis von Arzt und Patient sogar ein Moment von Liebe. Ein guter Arzt ist »liebevoll«: Er ist voll guterWahrnehmung. Er ist total mit dem Herzen bei der Sache. Bei aller Distanz, die ein Arzt auch haben muss, weiß er um die Leiden seines Patienten. Der Patient muss das Gefühl haben: Der Arzt ist auf meiner Seite.
Das Kapital der heilenden Beziehung
So entsteht im Idealfall zwischen Arzt und Patient eine einzigartige Form der Intimität, die es in ähnlicher Intensität allenfalls zwischen einem Seelsorger und einem Gläubigen gibt. Der gute Arzt genießt in allen Kulturen das höchste Ansehen. Dubiose Ärzte hingegen, die »Beutelschneider« und »Quacksalber«, hasst man wie die Pest. Sie zerstören nämlich gerade das Kapital der heilenden Beziehung:
das Vertrauen
. Ein Arzt, der das Vertrauen seines Patienten ausnutzt, beispielsweise um ihn hinzuhalten, an ihm geldbringende Scheinheilungen vorzunehmen, ihn gar pekuniär auszunehmen oder ihn als Versuchskaninchen zu benutzen – ein solcher Arzt wird überall auf der Welt als verachtenswerter Lump betrachtet.
Nun wollen wir den Arztberuf nicht allzu sehr verklären. Natürlich wurde und wird immer auch Geld damit verdient, und manchmal gar nicht schlecht. Bleibt es im Rahmen, ist nichts dagegen einzuwenden. Dem dreschenden Ochsen, heißt es schon in der Bibel, soll man das Maul nicht verbinden. Sieht man einmal von gewissen Chefarztgehältern ab, die in meinen Augen ein ebensolches
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