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Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos María Domínguez
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Intelligenz, dann zog ich mich ins Halbdunkel zurück, und während sich die Gabelzinken in den Apfel bohrten, stellte ich mir diese Art Zeitvertreib als eine hybride Form des Sakralen vor.«
    Das war das zweite oder dritte Mal, dass er auf Gott anspielte, und ich machte ihn darauf aufmerksam. Er zog eine Braue hoch und blickte auf die Baumkrone über dem Balkon, die einer Windböe trotzte. »Gebet und Lobpreis habe ich eben nur in der Kunst gefunden«, erwiderte er. Ich bat ihn, das näher zu erklären.
    »Ein Schwarzer singt einen Blues, in dem er bittet,Peggy möge zurückkehren. Jemand bildet die Sonne über den Feldern ab, ein anderer eine Pietà, oder er gibt seinem Schmerz auf der Bühne Ausdruck. Was sie auch sagen, immer ist es Gebet und Lobpreis in endlos sich wandelnden Formen.«
    Etwas Ähnliches habe auch Steiner geäußert, bemerkte ich. »Steiner kenne ich nicht«, entgegnete er. »Ich rede von dem, was mir selbst widerfahren ist, als hätte mir jemand gesagt: Hereinspaziert, schauen Sie, lauschen Sie, lassen Sie nur ein paar Münzen am Eingang. Das Bitten und Preisen sind zwei grundlegende Bewegungen der Seele. Niemand will mehr über die Seele reden, denn die war angeblich ein Irrtum. Damit hat die Psychoanalyse Schluss gemacht, aber das war wohl der nächste Irrtum, für mich sind jedenfalls immer noch Nominativ und Vokativ das Fundament, alle weiteren Fälle sind nichts als Verfall.« »Eine Tragödie der Grammatik«, witzelte ich. »Das dachte ich auch«, sagte er. »Als die Namen nicht mehr für sich selbst sprachen, mussten die Wörter sich beugen, von einem Fall zum anderen. Aber ich begreife nicht mehr, was da geschieht. Vielleicht habe ich nach all den Beglaubigungen, bei denen keine Unterschrift fehlen darf, nur noch darauf geachtet, was ein Dokument verspricht und in welcher Form es eingelöst werden soll. Vielleicht hat das meinen Blick auf Romane geprägt oder auf einen Haufen krummer Eisenstangen in einem Galeriesaal, auf ein Modellflugzeug, das um einen Hundehaufen kreist,oder auf Hirsts Hai. Ich begreife nicht, wie aus der Kunst Geschäft werden kann, aus dem Künstler ein Unternehmer, aus der Meisterschaft ein bloßes Objekt. Und es macht mich wahnsinnig, dass ich dennoch nichts daraus gelernt habe.«
    Vielleicht sprach der Whisky aus ihm, die Einsamkeit, oder es war der Anlauf zu einem Bekenntnis, das ich nicht hatte befördern können. Ich verließ ihn mit dem stummen Vorwurf, dass er nicht so umständliche Schleifen ziehen sollte, wenn er mir etwas zu sagen hatte. Das nächste Treffen ließ ich aus, und eines Nachts überraschte mich am Telefon die Stimme seiner Tochter.
    »Hier ist Eva Hansen«, sagte sie mit italienischem Akzent, ich kramte kurz im Gedächtnis und sah sie, ich weiß nicht, warum, wie auf einem der Fotos vor mir: mit gepiercter Nase und rotem Haar. »Papa möchte Sie sehen.«
    Waldemar hatte mich wohl nicht selbst angerufen, weil er es nicht bereute, er hatte sich donnerstags aus dem Fenster gestürzt, und inzwischen war es Montag. Eva sagte, die Ärzte wagten keine Prognose, und wären nicht die Zweige gewesen, er hätte nicht überlebt. Sie erfüllte den Auftrag, auch wenn sie nicht wusste, wer ich war oder warum ihr Vater mich sehen wollte.
    Ich versprach, am nächsten Morgen vorbeizukommen, und hatte beim Auflegen das Gefühl, dass Eva dankbar für eine Erklärung gewesen wäre. Aberes war schon nach Mitternacht, ich kannte diese Krankenhausgänge um Weihnachten und Neujahr, ich musste erst den Gedanken, spitz wie ein Nagel, abschütteln, dass er sich nichts angetan hätte, wäre ich am Donnerstag erschienen.
    Am Morgen ging ich in die Klinik, ohne rechte Vorstellung, wie ich einem Freund dienlich sein konnte, der versucht hatte, sich umzubringen. Dennoch zwang ich mich, das Gebäude zu betreten, nach ihm zu fragen und lange, grau geflieste Gänge entlangzulaufen, bis ich in einer Vorhalle auf seine Schwester stieß, die sich gerade ärgerte, dass ihr Handy keinen Empfang hatte. Sie bat mich um meines, dankte, ging in Richtung der Türen, die in einen Garten führten, drehte sich noch einmal kurz um und musterte mich durch ihre Sonnenbrille. Sie wirkte älter als Waldemar, größer und trotz des Gehstocks selbstsicherer.
    Wir hatten uns eben erst kennengelernt, und schon hatte sie mich neben zwei Sesseln stehen lassen, ich hoffte, mit Eva mehr Glück zu haben. Die erschien sogleich in schwarzer Tunika und mit rechteckiger Brille, die ihr Gesicht härter

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