Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
aussehen ließ, nun ohne Nasenpiercing, aber auch über die Distanz der Jahre hinweg vom Foto her erkennbar, das Waldemar mir gezeigt hatte. Sie setzte sich neben mich und schimpfte auf die Ärzte, die ihren Vater mit Beruhigungsmitteln vollpumpten, doch unfähig seien, abschließend festzustellen, was er sich alles gebrochen hatte. Als sie mir die Gelegenheit gab, mich vorzustellen, atmete sie tief ein, bohrte ihre Augen in mich und sagte, ich könne ihn nicht sehen. Er habe eine schlechte Nacht hinter sich und niemand dürfe zu ihm, nicht einmal sie, und würde eine Krankenschwester sie nicht auf dem Laufenden halten, sie hätte schon längst einen Riesenaufstand gemacht. Sie hatte einen Termin beim Klinikleiter und eine Privatfehde mit dem Traumatologen. Eva war seit drei Tagen in Montevideo, hatte die Nächte in der Klinik verbracht, und der Schlafmangel verzerrte ihre Stimme. Ich erzählte ihr, wie ich Waldemar kennengelernt und wie sehr mich die Nachricht überrascht hatte, aber sie konzentrierte sich auf die Türen der Intensivstation, und als die Schwester mit meinem Handy zurückkam, stellte sich unbehagliches Schweigen ein. Mehrere Sekunden lang betrachteten wir zu dritt die glänzenden Fliesen und die Philodendronblätter vor dem Fenster. Dann ging Eva sich eine Limonade holen, Hansens Schwester nahm die Brille ab und zeigte sich erstaunt, dass Waldemar einen Freund hatte.
Wanda war eine schöne Frau gewesen und bemühte sich, das nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Ihr graues Haar überspielte sie mit einem modischen Kurzhaarschnitt, eine schmal geschnittene Jacke betonte ihre Schultern, und ihre hellen Augen blickten mit der Geradlinigkeit eines Falken. Noch einmal erzählte ich meine Geschichte mit Hansen,hielt mich mit Lobreden zurück und übertrieb, bloß um ihr zu widersprechen, unsere Vertrautheit. Sie sagte, soweit sie wisse, habe er in seinem ganzen Leben nur zwei Freunde gehabt: ein »schwarzes Kerlchen«, das in der Kindheit bei ihnen in Colón um die Ecke gewohnt hatte, und später einen Anwalt, der ihm einen falschen Figari hatte andrehen wollen. Ich entgegnete, für Prüfungen sei ich zu alt, und sie deutete ein Lächeln an, das liebenswürdig sein sollte, kramte in der Handtasche und reichte mir ihre Visitenkarte mit der Empfehlung, keinen Gebrauch davon zu machen. Reglos sah sie mich an und setzte wieder die Sonnenbrille auf, da Eva zurückkam. Ich steckte die Karte ein, blickte rasch auf die Uhr und verabschiedete mich mit dem Versprechen, zurückzukommen, auch wenn ich die beiden nicht unbedingt wiedersehen wollte, sondern nur um einen halbwegs anständigen Abgang bemüht war.
Was auch immer Waldemar mir zu sagen hatte, es musste warten. Um neun Uhr abends rief Eva mich an und teilte mir mit, die Beerdigung finde am nächsten Morgen auf dem Buceo-Friedhof statt, eine Totenwache werde es nicht geben. Es hieß, das Rückenmark sei zu beschädigt gewesen, doch Eva ließ sich nicht ausreden, dass ärztliche Fahrlässigkeit im Spiel gewesen war, und wollte gerichtliche Schritte einleiten. Eine Szintigrafie war verlegt, eine Magnetresonanz aufgeschoben worden, und die Krankenschwester hatte eine Vene zum Platzen gebracht.Nicht gerade ein gefundenes Fressen für Anwälte, aber ich teilte ihre Empörung, während ich mich zu fassen versuchte. Als sie auflegte, ging ich im Geist mein letztes Treffen mit Waldemar durch, suchte nach Anzeichen, die auf sein Vorhaben hätten hindeuten können, und versank in einem Meer von Vermutungen. Wie dumm der Tod ist, sieht man daran, dass er keine Unterschiede macht, auf einem Selbstmord jedoch lasten alle möglichen Gedanken. Was hatte Hansen sich gedacht? Unmöglich, zu wissen.
Bei dem Begräbnis reihte ich mich hinter Wanda Rizzi und einem großen Mann in dunklem Anzug ein, der sich als ihr Sohn vorstellte. Eva war uns ein wenig voraus und nicht nur, weil Wandas Gehstock Langsamkeit gebot, während etwas abseits, ein paar Schritte hinter uns, eine junge Frau mit langem, gelocktem Haar folgte, die kaum vom Boden aufblickte. Es war ein warmer Morgen, die Bäume warfen glitzernde Perlenmuster auf Marmorplatten und Grabmale, und die schillernde Linie des Meeressaums schnitt durch den Himmel. Wir zogen hinter den Sargträgern die Zypressenallee hinauf zur Familiengruft der Rizzis – ein Mausoleum ohne Kapelle, mit Portikus und kniendem Engel –, doch niemand ging mit ihnen in die Gruft hinab, wo sie die sterblichen Überreste aufbahrten. Eva entließ
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