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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Strick um seine Taille hing eine kleine Plastikflasche, halb gefüllt mit Wasser. Shan zog die Decke weg und legte den linken Fuß frei, der in einem zerlumpten Lederstiefel steckte. Um die Sohle war ein robuster, fünf Zentimeter breiter Jutestrang gewickelt.
    In den Hosentaschen trug Atso zwei kleine Beutel bei sich;einer enthielt die frisch gepflückten Blüten einer Blume, der andere Wacholderspäne. Aus einer kleinen, eingenähten Innentasche der Filzweste zog Shan ein mehrfach gefaltetes Stück Papier, die gedruckte Ankündigung einer kostenlosen ärztlichen Untersuchung für Kinder im Tal. Auf der Rückseite des Blattes stand in zahllosen Reihen winziger tibetischer Handschrift immer wieder das mani -Mantra, die Anrufung des Mitfühlenden Buddha. Shan musterte das Gesicht des Mannes und dann wieder den Zettel. Atso hatte das Mantra mindestens tausendmal geschrieben und das Papier zusammengerollt und gefaltet, als solle es an einem sehr beengten Ort hinterlassen werden.
    Shan nahm die demolierte Statue, die kleine silberne Tara. Ihre Patina ließ auf ein sehr hohes Alter schließen, abgesehen von dem hell schimmernden Fleck an einer Schulter. Nach Ansicht der Gläubigen brachte es Glück, diese Stelle zu reiben. Shan hielt sich die Figur dicht vor die Augen und betrachtete aus mehreren Winkeln den verbeulten, eingedrückten Kopf und den langen Spalt am Rücken. Er mußte an Jaras beklemmende Worte denken. Man wird hier schon wegen eines Worts getötet . Die Göttin war hohl und leer. Tibeter steckten kleine zusammengerollte Gebete häufig in solche Statuen.
    Shan blickte wieder zu Lokesh. Anstatt mit den Todesriten zu beginnen, hatte sein alter Freund ihn gebeten, Atsos Leichnam in Augenschein zu nehmen, obwohl die Hügelleute nicht begeistert sein würden, daß Shan den Toten berührt hatte, und obwohl sie beide wußten, daß die Mönche Shan auf keinen Fall gestatten würden, in diesem Mordfall zu ermitteln, da für sie nur die Erforschung des Geistes zählte. Er legte die Göttin zurück auf die Decke und ging zu Lokesh. »Was weißt du noch?« fragte er. »Was verheimlichst du vor mir?« Er streckte den Zettel aus. »Wieso war Atso dermaßen beunruhigt, daß er tausend Mantras geschrieben hat?«
    Lokesh betrachtete mit hilflosem Blick das Papier, als wolle er jedes einzelne Mantra lesen. »Ich habe ihn nur einmal getroffen, und zwar als ich vor zwei Wochen dort oben in den Bergen Beeren gesammelt habe«, sagte er und nickte in Richtungder schneebedeckten Gipfel im Osten. »Er hat mich gefragt, was wir hier in Zhoka machen würden. Als ich sagte, das sei ein Geheimnis und er solle heute herkommen, um es selbst herauszufinden, wurde er erst ärgerlich und dann traurig. Er sagte, wir hätten ja keine Ahnung. Zhoka sei ein Ort seltsamer und mächtiger Dinge, die man in Ruhe lassen müsse. Er sagte, am gefährlichsten an Zhoka sei, nicht zu begreifen, was es mit den Leuten anstelle.«
    »Willst du andeuten, irgend etwas hier habe mit seinem Tod zu tun?« fragte Shan.
    Lokesh wandte sich zu der Leiche um. »Was er sucht, ist irgendwohin entschwunden«, sagte er leise.
    Shan musterte seinen Freund. Die alten Tibeter neigten dazu, bei ihren Äußerungen die Zeiten zu vermischen und zu überbrücken, so daß sie bisweilen Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte ignorierten, wenn sie eine grundlegende Wahrheit zum Ausdruck brachten. Gerade als er nachhaken wollte, kam aus dem Schatten hinter Atso eine junge, schwarz gekleidete Frau zum Vorschein, die ihr Haar zu einem langen Zopf geflochten hatte. Sie kniete sich neben den Toten, verstaute die lädierte Statue, ohne genauer hinzusehen, wieder in ihrem Beutel, zog die Decke glatt und legte sie dann über Atso, als würde sie ihn liebevoll zu Bett bringen. Dabei warf Shan einen flüchtigen Blick auf den rechten Stiefel des Toten, der zwar ebenfalls mit Jute umwickelt war, aber längst nicht so abgerissen wirkte wie sein Gegenstück und vermutlich gar nicht zusammengehalten werden mußte.
    »Liya«, sagte Shan. »Woher kennst du diese Statue?«
    Als sie den Kopf hob, standen ihr Tränen in den Augen. »Als ich noch klein war, hat Atso mich immer auf den Schultern getragen, damit die Schafe mich nicht umrennen konnten. Ich habe ihn seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Damals ist seine Frau gestorben und er in diese Hütte gezogen.«
    »Wohin wollte man ihn bringen?« Shan verstand nicht, weshalb die Tibeter seinen Fragen auszuweichen schienen.
    »Als ich letzte Nacht geritten

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