Der verlorene Sohn von Tibet
mit ihnen beschäftigt, desto tiefer ziehen sie den Betrachter in ihre komplexe Welt, in der jede Farbe und jedes Bild – von der sorgfältig angeordneten Haltung menschlicher Hände bis zu den emporgehobenen Lotusblüten – eine symbolische Bedeutung besitzen. Die Anfertigung der Gemälde war ein selbstloser Akt der Verehrung, und die Künstler, denen wir viele der erlesensten Stücke verdanken, sind uns heute unbekannt, weilsie ihre Arbeiten nicht signiert haben. Kein Bild galt als abgeschlossen, solange es nicht geweiht und dadurch mit einer eigenen Gottheit versehen worden war. Die berückende Schönheit dieser göttlichen Wohnsitze wird in ihrer Wirkung noch verstärkt, wenn man sich vor Augen führt, daß den Sterblichen, die sie erschaffen haben, ausschließlich die natürlichen Ressourcen des Hochgebirges zur Verfügung standen und alle Farben aus einheimischen Pflanzen und Mineralien gewonnen werden mußten. Wer mehr über die spannende Welt der tibetischen Kunst erfahren möchte, kann auf eine Reihe vorzüglicher Bücher zurückgreifen. Drei der umfassendsten und nützlichsten sind Sacred Visions (Harry N. Abrams Inc.; deutsch als: Geheime Visionen, Museum Rietberg) von Steven Kossak und Jane Casey Singer sowie zwei Bände, die beide den Titel Art of Tibet tragen, einer von Robert Fisher (Thames and Hudson), der andere von Pratapaditya Pal (Harry N. Abrams Inc.).
Das erwachende westliche Interesse für diese Kunst hat bedauerlicherweise auch Plünderungen zur Folge. Der größte Teil der tibetischen Schätze ist in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ohnehin den unterschiedslosen Zerstörungen der Kulturrevolution zum Opfer gefallen. Was übrigblieb, lag zumeist in einsamen, ungeschützten Tempeln, Höhlen und Ruinen versteckt. Eine beachtliche Anzahl dieser Werke wurde in den letzten Jahren gestohlen, bisweilen unter Einsatz hochentwickelter Verfahren. Davon betroffen waren unter anderem der berühmte Nyetang-Schrein südlich von Lhasa, die außergewöhnliche Sammlung des kleinen Museums in Tsetang und uralte Kunstwerke aus dem tausendjährigen Tempel von Toling im äußersten Westen Tibets. Jahrhundertealte Statuen in Schreinen entlang der Pilgerroute rund um den heiligen Berg Kailas wurden von der Kulturrevolution übersehen, nicht aber von einem Diebesring, der die Schreine vor zehn Jahren ausgeraubt hat. Und auch die Zeit fordert ihren Tribut. Pamela Logans Tibetan Rescue (Tuttle Publishing) berichtet von den Schwierigkeiten eines internationalen Versuchs, die bröckelnden Wandgemälde des entlegenen Klosters Pewar zu retten.
Die tibetischen Tempel der Erdbändigung, für die Zhoka als fiktives Beispiel steht, waren die Aufbewahrungsorte einer Vielzahl bedeutender früher Kunstwerke. Während diese Tempel in der heutigen buddhistischen Lehre keine große Rolle mehr spielen, waren sie einst die wichtigsten Bauwerke des Landes: als nämlich der frühe Buddhismus mit dem Animismus verschmolz, der bis dahin in Tibet vorgeherrscht hatte. Bei ihrer Konstruktion wurden wahre Wunder der Technik und Kunst vollbracht. Wie in einem tibetischen thangka gab es auch hier keinen einzigen Aspekt, der nicht entweder einen symbolischen Gehalt besaß oder dank sorgsamer Planung in direkter Beziehung zu den beschworenen Gottheiten stand. Die Traditionalisten unter den Tibetern werden auch heute noch darauf hinweisen, daß Tibet vor der Errichtung der Tempel der Erdbändigung häufig von Erdbeben heimgesucht worden sei.
Zu guter Letzt werde ich auch diesmal nicht müde zu betonen, daß zwar die Figuren und Schauplätze meiner Romane fiktiv sind, leider nicht jedoch der Kampf des tibetischen Volkes um die Bewahrung von Glauben, Kultur und Integrität. Das traditionelle Tibet mag von Gottheiten bevölkert sein, aber es leben dort auch Tausende stiller Helden, die uns viel über Tapferkeit lehren können, über das Ertragen der widrigsten Umstände und über ein Dasein, das den wirklich wichtigen Dingen gilt. Lha gyal lo .
Eliot Pattison
Glossar der fremdsprachigen Begriffe
Aku . Tibetisch. Onkel.
Amban . Chinesisch. Der Abgesandte der kaiserlichen Mandschu-Regierung (Qing-Dynastie) in Lhasa. Das Amt wurde 1727 eingerichtet und 1913 vom dreizehnten Dalai Lama wieder abgeschafft.
Bardo . Tibetisch. Kurzform für die Bardo-Todesriten; bezieht sich speziell auf die Übergangsphase zwischen Tod und Wiedergeburt.
Bayal . Tibetisch. Traditionell ein »verborgenes Land«; ein Ort, an dem Gottheiten und
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