Der verlorene Sohn von Tibet
nicht getraut.« Er nahm das Geschenk. Es war in mehrere dicke Lagen Filz gehüllt, und als er die letzte aufschlug, atmete er vernehmlich aus. »Der Pyjama des Lama«, flüsterte er.
Es war der gerahmte Limerick aus dem Wohnhaus des Majors, verfaßt auf dem Briefpapier der königlichen Artillerie. Dabei lag eine kurze Nachricht. Der Amerikaner las sie und fing an zu lächeln. Dann reichte er sie an Shan weiter. Wir werden die Geschichte von dem hochgewachsenen Amerikaner, der im Mondschein mit der alten blinden Frau tanzt, für den Rest unseres Lebens in unseren Herzen tragen , stand dort. Die Kinder haben kürzlich einen Regenbogen gesehen, der sich in Richtung Amerika erstreckte, und uns gefragt, ob Sie wohl am anderen Ende seien. Wenn Sie den richtigen Regenbogen finden, wird in Bumpari ein Haus für Sie stehen.
»Werden Sie zurückkehren?« Shan gab ihm den Brief und schloß die Wagentür.
Corbett legte den Gang ein. »Das kommt auf den richtigen Regenbogen an.« Er streckte den Arm zum Fenster hinaus, drückte Shan die Hand und fuhr los.
Die meisten der Kotsammler waren bereits zu ihrer morgendlichen Runde aufgebrochen, doch in dem alten Stall füllten zwei Frauen soeben die Butterlampen vor dem heiligen Gemälde auf.
»Kommt er bald zurück?« fragte Shan.
Eine der Frauen richtete sich auf und schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat uns verlassen.«
»Verlassen?«
»Vorgestern, nachdem der Bergbuddha erschienen war«, sagte sie. »Er hat seine Farben und Pinsel eingepackt und gesagt, er müsse nun gehen und eine andere Stadt finden, in der er benötigt werde. Ich habe ihm etwas Proviant mitgegeben, und dann ist er einfach losgegangen und hat ein altes Pilgerlied angestimmt.«
Ohne weiter darüber nachzudenken, half Shan den Frauen beim Befüllen der restlichen Lampen und musterte dann noch einmal Suryas Gemälde. Manche der Heiligen hätten genauso gelebt, hatte der alte Mann bei Shans letztem Besuch gesagt. Sie seien von Stadt zu Stadt gezogen und hätten den Göttern neuen Glanz verliehen. Als Shan mit seinem Schnürbeutel schließlich wieder auf die Straße trat, wartete dort ein vertrauter Wagen.
Tan saß selbst am Steuer. Er beugte sich zur Beifahrerseite herüber und öffnete die Tür. Shan stieg ein und drückte sich den Beutel dicht vor die Brust. »Die Öffentliche Sicherheit war heute morgen schon sehr früh da«, sagte der Oberst angespannt. »Jetzt sind sie wieder weg. Ming auch. Es wird einen der Geheimprozesse geben, wie sie bei leitenden Parteimitgliedern üblich sind.«
Der Oberst würde zu dem Verfahren als Zeuge geladen werden. Shan nahm an, daß Tan seine Hilfe bei der Vorbereitung der Aussage benötigte. Doch sie fuhren an der Kaserne vorbei und bogen auf eine Schotterstraße ein, die Shan nur zu gut kannte. Er preßte den Beutel noch fester an die Brust und schaute zu den fernen Gipfeln.
»An Dolans Hand waren Schmauchspuren«, sagte Tan, als das Gefangenenlager in Sicht kam. »Er hat kurz vor seinem Tod eine Waffe abgefeuert.«
»Sie haben Yaos Brief doch gelesen«, sagte Shan. »Er hat mit den Plünderern gekämpft und konnte einem von ihnen die Pistole entreißen.«
»Wir wissen beide, daß das gelogen war. Wäre es denn so schlimm, wenn einer der reichsten Kapitalisten der Welt als Mörder und Dieb enttarnt würde, als ein ganz gewöhnlicher Verbrecher?«
Shan sah den Oberst an und wog sorgfältig ab, was er nun sagen würde. Er hatte in Tibet gelernt, daß Gerechtigkeit nicht nur ein schwer faßbarer Begriff war, sondern zudem zu den grundlegenden Dingen zählte, den wahrhaftigen Dingen, wie Lokesh sagen würde, für die Worte niemals genügten. Gerechtigkeit hatte mit Wahrheit und mit Spiritualität zu tun. Und für jemanden wie Tan spielte immer auch die Politik eine Rolle. »Falls es so wäre, würden aus Peking und Amerika ganze Heerscharen von Ermittlern über Lhadrung hereinbrechen, dazu Journalisten, Diplomaten und Fernsehteams aus der ganzen Welt, wahre Horden, nicht bloß eine Handvoll wie gestern. Lhadrung würde sich unter einem Mikroskop befinden. Aber vielleicht könnte sich für Sie daraus eine günstige Gelegenheit ergeben.«
Tan seufzte und hielt in der Nähe des Tors, ungefähr an der Stelle, an der das große Zelt gestanden hatte. Dann starrte er lange Zeit die Berge an und rauchte schweigend.
»Ich habe kein Interesse mehr an günstigen Gelegenheiten«, sagte er langsam und zuckte die Achseln. »Also sollte ich wohl lieber die Nachbarbezirke
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