Erbarmungslos: Thriller (German Edition)
Prolog
Santiagode León de Caracas
Bolivarische Republik Venezuela
Die Fluten hatten in diesem Jahr ein weiteres Dutzend Menschen getötet, alles namenlose Caraqueños, die in den armseligen Hüttensiedlungen auf den Hügeln rund um die Hauptstadt gelebt hatten. Schlammmassen hatten eine Woche zuvor Schneisen durch die Slums geschnitten und die Toten in den Betonkanal gespült, der Caracas zweiteilte und den Rio Guaire kaum unter Kontrolle halten konnte. Jetzt quoll der Kanal von dem schmutzigen Dezemberwasser und dem, was entlang der Straßen von Caracas zwischen den Hügeln und dem Stadtzentrum gelegen hatte, fast über. Autos, die über die Brücken fuhren, spritzten ununterbrochen Wasser in den Fluss und erzeugten zusätzlich zu dem Gurgeln ein seltsames Geräusch, als risse Gott ein Blatt Papier nach dem anderen durch. Das braune Wasser war im Mondlicht unter diesem Abschnitt der Autopista Francisco Fajardo kaum sichtbar. Die Schatten verwandelten die Graffiti an der Mauer in schweigende Ungeheuer, die die Flut beobachteten und nur darauf warteten, jeden auszulachen, der so dumm war, am Ufer zu spielen.
Kyra Stryker schlenderte den Fluss an der Nordseite entlang, hielt sich aber vom schmutzigen Damm weit genug entfernt, um nicht hineinzufallen, falls sie stolperte. Die Kanalwände waren steil, und die Strömung war so stark, dass auch sie es nicht mehr schaffen würde herauszuklettern. Die einzige Frage war, ob man den Tod durch Vergiftung oder Ertrinken gefunden hatte, noch bevor man ins Karibische Meer gespült wurde. Doch sollte sie sterben, dann nicht so, nahm sie sich vor.
Der Feind würde ihr hier problemlos auflauern können. Sie hatte es aufgegeben, mögliche Hinterhalte auszumachen, weil es derer zu viele gab und der Fluss eine perfekte Möglichkeit bot, einen CIA -Agenten zu töten und die Leiche im selben Moment zu entsorgen, wenn der SEBIN , der Servicio Bolivariano de Inteligencia , es darauf anlegte. Bis jetzt hatten sie es noch nicht gewagt, doch aufgrund der Mordrate in Caracas könnte man ihr Verschwinden leicht für ein gewöhnliches Verbrechen halten. Die Polizei, die so korrupt war wie die Verbrecher, würde dem Botschaftsbeamten, der die Vermisstenanzeige aufgeben würde, mit dem Finger drohen. Eine Frau, die sich nachts allein in einem dunklen Armenviertel herumtreibt? Ach, Amerikaner sind einfach viel zu unvorsichtig , würden sie sagen.
Ihr dunkelblondes Haar, das sie zu einem Zopf gebunden trug, war bereits von dem abendlichen Sprühregen nass, doch ihre Hände schob sie in ihre leeren Jackentaschen, um sie trocken zu halten. Der Regen sorgte dafür, dass die meisten Einwohner zu Hause blieben, wodurch sie sich ungeschützter fühlte. Als große, blonde Frau in Jeans und brauner Lederjacke fiel sie in dieser Stadt immer auf. Es hätte aber auch schlimmer kommen können. Mehr als die Hälfte ihrer Klassenkameraden, mit denen sie im Ausbildungszentrum Camp Preary, der »Farm« in Virginia, gewesen war, hatte es nach Afrika oder in den Mittleren Osten verschlagen, beides auf die eine oder andere Art mörderische Orte für Amerikaner, wo sie sich nur unter einer abaya hätte verstecken können. In Caracas war ein zivilisiertes Leben möglich, und die Einwohner waren Amerikanern gegenüber freundlicher gesinnt als die Regierung. Dies machte die Hauptstadt zu einer feindlichen, aber nicht tödlichen Umgebung, in der Kyra ihre Fertigkeit – zumindest tagsüber – vervollkommnen konnte.
Bei Nacht durch die Straßen der Hauptstadt zu schleichen, das war eine andere Sache.
Es sollte ein einfaches Treffen werden. Das zumindest hatte ihr der Chief of Station gesagt, der Stationsleiter der in der Botschaft ansässigen CIA -Vertretung. Doch Kyra war nicht die Einzige, die Sam Rigdon für wahnsinnig hielt. Rigdon hatte den Spion, einen höheren SEBIN -Mitarbeiter, Ort und Zeitpunkt für das Treffen bestimmen lassen. Der angeworbene Spion hatte behauptet, er kenne die Stadt besser als jeder Amerikaner, was ja vielleicht auch stimmte, und Rigdon hatte sich damit einverstanden erklärt. Kyra hatte ihre CIA -Ausbildung noch keine sechs Monate hinter sich und wusste bereits, dass es schlichtweg dumm war, diese Aufgabe einem Spion zu überlassen. In diesem Geschäft war dumm gleichbedeutend mit gefährlich und einem möglicherweise raschen Übergang zu tot .
»Dieser Mann hat uns gute Informationen geliefert«, hatte Rigdon erklärt. Das war höchst fraglich. Die Zigarren und der karibische Rum
Weitere Kostenlose Bücher