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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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gelesen, so rief sie: »Was ist das?
     
    Wenn um die Berge von Befour
    Des Abends dunkle Schatten wallen!
     
    Das ist ja das Gedicht des Hadschi Omanah! Doch nein, es lautet hier anders, ganz anders!«
    Sie las weiter und weiter. Als sie geendet hatte, fragte sie:
    »Wer hat das geschrieben?«
    »Ich,« antwortete Robert.
    »Wovon haben Sie es abgeschrieben?«
    »Es ist keine Abschrift, sondern Original.«
    »Original? Wer hat es gedichtet?«
    »Ich, mein Fräulein.«
    Sie richtete die dunklen, sprühenden Augen groß und voll auf ihn, musterte ihn genauer, als es vorher geschehen war, und fragte: »Sie? Wirklich Sie? Dann ist es blos ein Zufall, daß Sie Ihrem Vorbilde fast gleichgekommen sind. Es ist ein Pendant zu der ›Nacht‹ von Hadschi Omanah!«
    »Ja, es ist ein Pendant zu der ›Nacht‹ von Hadschi Omanah. Das erstere Gedicht ist die ›epische Nacht‹ und dieses hier die ›tragische Nacht des Südens‹, jedoch nicht nur das Erstere, sondern Beide sind von Hadschi Omanah.«
    »Wie können Sie das sagen? Dann wären ja Sie dieser Dichter der Heimaths-, Tropen-und Wüstenbilder.«
    Seine Wangen rötheten sich, und seine Gestalt schien sich zu strecken.
    »Nicht wahr, Fräulein, ich sehe nicht aus wie ein Dichter?« fragte er. »Wie kann ein Dichter zur Leihbank seine Zuflucht nehmen? Mein Vater stirbt an der Auszehrung, und meine Pflegegeschwister weinen und jammern vor Noth. Und doch ist mein Pseudonym Hadschi Omanah!«
    Da trat sie zu ihm heran, legte ihm beide Hände auf die Achseln und sagte in tiefen, vollen Brusttönen:
    »Hadschi Omanah wären Sie? Gefunden hätte ich meinen Lieblingsdichter! Können Sie das beweisen?«
    Ihre Augen leuchteten, ihre Wangen glühten, und ihr Busen hob und senkte sich unter dem Sturme der Gefühle, welche in diesem Augenblicke ihr Herz durch flutheten. Er hob das treue, ehrliche und doch so geistvolle Auge zu ihr und antwortete: »Wie soll ich es Ihnen beweisen, wenn Sie es mir nicht glauben? Ich müßte Sie zu meinem Verleger führen, um es mir von ihm bestätigen zu lassen.«
    »Nein, das ist nicht nöthig! Ich will es wissen, ich muß es wissen, ob Sie der Geist sind, den ich bewundert habe und der es meiner Seele angethan hat. Und ich werde es erfahren, gleich jetzt, sofort! Hier liegt Papier, und hier ist Tinte und Feder. Soll ich Ihnen ein Sujet geben? Können Sie mir sofort ein Gedicht schreiben?«
    Er blickte ihr selbstbewußt lächelnd in das erregte Gesicht und antwortete in seinem milden, freundlichen Tone: »Versuchen Sie es, mein Fräulein!«
    »Nun wohl! Ich werde Ihnen ein Sujet geben, ein Sujet, welches Ihren Eigenheiten, Ihrer wundervollen Sprache, Ihren funkelnden Reimen ganz angepaßt ist: Der Seesturm. Denken Sie sich die Fee des Meeres auf dem stillen, tiefen Meeresgrunde. Sie hat noch nie ein menschliches Gefühl im Herzen getragen, bis sie einst glückliche Menschenkinder belauschte. Da begann es auch in ihrem Herzen zu wogen und zu wallen; es gährte, spritzte, zischte, es donnerte und – wissen Sie, was ich meine?«
    »Ja, Fräulein.«
    »So nehmen Sie hier Papier!«
    »Das ist nicht nöthig. Ich werde extemporisiren.«
    »Bringen Sie das fertig?«
    »Ich möchte Den, welcher nicht Herr der Sprache ist, auch niemals einen Dichter nennen!«
    »Sie mögen Recht haben. Gut, beginnen Sie!«
    Er blickte ihr einen Augenblick lang sinnend in die dunklen Augen und sagte dann:
    »Fräulein, ich müßte Sie schildern. Sie haben der kalten, gefühllosen Meeresfee geglichen, bis ein Funken des Lichtes in Ihr Auge, in Ihr Herz gefallen ist. Hören Sie:
    Wo keiner Stimme Töne klangen
    Am Grunde der krystallnen See,
    Da liegt, vom Schlummer lind umfangen
    Im Zauberschloß die Meeresfee.
    Sie träumt von Liebe, träumt vom Leben,
    Das über ihrem Reiche rauscht,
    Dem, von Triton und Elf umgeben,
    Sie oft verborgen zugelauscht –«
     
    Er wollte fortfahren, aber sie faßte seinen Arm und sagte:
    »Halt! Sie sind Hadschi Omanah, ja, Sie sind es! Das ist seine Sprache; das ist sein Ausdruck und sein Reim. Herr, ich habe Sie schwer beleidigt, indem ich an Ihnen zweifelte; ich habe Sie um Verzeihung zu bitten!«
    »Ich verzeihe Ihnen gern,« sagte er einfach. »Es hat mich noch Niemand, der mich sah, für einen großen Geist gehalten; wie sollte ich da Ihnen zürnen! Also Sie haben meine Tropen-und Wüstenbilder gelesen?«
    »Hundertmal, nein, tausendmal! Aber nein, sprechen wir jetzt nicht von Ihnen, sondern von den Gründen, welche Sie veranlassen, uns

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