Der verlorne Sohn
sinnlos vor Scham, Zorn und Schmerz. Das Ergebniß war, daß die Prinzipalin versuchen lassen wollte, ob der Schaden auf chemischem Wege beseitigt werden könne. Morgen Nachmittag drei Uhr sollte sie wiederkommen, um die Arbeit selbst zur Baronin zu tragen, welche sämmtliches Material geliefert hatte. Von einer Auszahlung des Arbeitslohnes war natürlich keine Rede, und zugleich erhielt sie die Versicherung, daß sie niemals wieder Arbeit bekommen solle.
Sie wankte halb todt nach Hause. Wie hatte sie sich auf das viele Geld gefreut! Sie hatte sich schon ausgerechnet, auf welche Weise es angewendet werden solle, und wie sie davon dem Vater, Robert, den Geschwistern und ihrem lieben Wilhelm eine kleine Weihnachtsfreude machen wollte – und nun war die Arbeit von Monaten umsonst gewesen. Nichts hatte sie erhalten als Schande, Spott und Demüthigung! Fast getraute sie sich nicht, zur Thür einzutreten. Die Familie wartete mit Schmerzen auf das Geld.
In der Stube herrschte bereits eine sehr gedrückte Stimmung. Die kleineren Geschwister hatten sich in die Ecke niedergeduckt; der Vater hustete, als wolle es ihm die Brust auseinander treiben, und Robert sah trüben Antlitzes zum Fenster hinaus. Als sie eintrat, drehte er sich um.
»Endlich!« sagte er. »Ich hoffe, daß Du glücklicher gewesen bist als ich, liebe Marie!«
»Warst Du nicht glücklich?« hauchte sie.
»Nein. Der Herr war verreist. Man hat die Noten behalten, ohne daß ich Geld bekam. Ich soll morgen oder in einer Woche oder noch später wiederkommen.«
»Gott, o Gott!« schluchzte sie. »Wir sind verloren. Wie soll da der Herr Baron die Miethe erhalten!«
Sie erzählte nun, was ihr widerfahren war. Der Vater jammerte laut, die Geschwister weinten. Einer aber sagte nichts, nämlich Robert. Er ging in die Kammer und holte seine Kette. Er wickelte sie in das nächste Stück Papier, welches er fand, und schlich sich still davon. Unten auf der Straße faltete er die Hände und betete: »Herrgott, hilf nur dieses Mal! Gieb dem Salomon Levi einen guten Augenblick, daß er mir so viel bietet, wie ich brauche!«
Er schlich sich an den Häusern hin, bis er des Juden Thür erreichte. Sie war verschlossen, und er klopfte. Die alte Rebecca öffnete ein Wenig, und als sie hörte, was er wolle, ließ sie ihn ein. Er mußte durch das vordere Zimmer in das Cabinet, in welchem gestern Abend die Frau des Schließers gewesen war. Dort befand sich Salomon Levi, der Jude, und – Judith, seine Tochter. Sie war auf einige Augenblicke herabgekommen, um einiger häuslichen Fragen willen. Ihr Auge fiel auf das übergeistigte, schöne, aber vor Sorgen bleiche und hagere Gesicht des Jünglings.
»Was will der junge Herr?« fragte der Alte.
»Würden Sie mir auf eine goldene Kette einen Vorschuß geben?« fragte Robert.
»Was ist sie werth?«
»Ich verstehe nicht, das zu schätzen. Hier ist sie!«
Er gab sie hin, mitsammt dem Papiere, in welches er sie eingewickelt hatte. Der Alte setzte die Brille auf, wickelte die Kette aus, warf das Papier achtlos auf den Tisch und untersuchte die Erstere. Als er damit zu Ende war, warf er einen scharfen, beinahe stechenden Blick auf Robert und fragte ihn: »Ist die Kette Ihr Eigenthum?«
»Ja.«
»Von wem haben Sie sie erhalten?«
»Jedenfalls von meinen Eltern.«
»Ist denn Ihr Vater ein Baron, ein Freiherr?«
»Ich weiß es nicht. Ich bin ein Findelkind und habe, als man mich fand, diese Kette um den Hals getragen.«
»Das kann ein Jeder sagen! Haben Sie bei sich einen Schein, welcher beweist die Wahrheit Ihrer Worte?«
»Ja, hier ist er!«
Robert hatte vorsichtiger Weise diese Legitimation zu sich gesteckt und gab sie dem Alten. Dieser prüfte sie und sagte dann: »Der Schein ist in Ordnung. Wieviel wollen Sie haben?«
»Wieviel können Sie mir geben?«
»Zehn harte, blanke, schwere Thaler.«
»Das reicht nicht hin!«
»Wie? Was? Das reicht nicht hin für einen so jungen Herrn? Wozu wollen Sie brauchen dieses schwere Geld?«
»Herr Levi, mein Pflegevater ist arm und krank und ich habe jüngere Geschwister, welche noch nichts verdienen können. Wir sind den Hauszins schuldig und haben nichts zu essen. Ich brauche weit mehr als nur zehn Thaler!«
Da trat auch Judith näher, um sich die interessante Kette anzusehen. Zugleich fiel ihr Blick auf das Papier. Die Anordnung der Zeilen, welche darauf geschrieben waren, bewies ihr, daß es ein Gedicht sei. Sie nahm es auf und betrachtete es. Kaum aber hatte sie die ersten Zeilen
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