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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Und in diesem Hause ist das Verderben größer als zur Zeit Noah, da die Sündfluth hereinbrach. Weiß denn die Frau Fels bereits, warum ihr Sohn seit gestern nicht nach Hause gekommen ist?«
    »Jedenfalls, weil er zu arbeiten hat!«
    »Jetzt nicht. Aber später wird er zu arbeiten haben. Wolle zu zupfen und Flachs zu spinnen im Zuchthause!«
    »Im Zuchthause?« rief sie. »Was soll das bedeuten?«
    »Nun, ist gestern nicht sein Principal hier gewesen, um die Maschine des Engländers zu sehen? Ist diese Maschine nicht von der Polizei abgeholt worden? Wilhelm Fels hat Arbeitsmaterial unterschlagen und ist gestern Mittag arretirt worden.«
    »Arretirt!« kreischte die Blinde auf.
    »Arretirt!« schrie auch Marie, indem sie sich entsetzt von der Leiche wegwendete und zur Mutter des Geliebten herüberwankte. »Frau Fels, glauben Sie das nicht, glauben Sie das nicht!« jammerte sie.
    »Glaubt es oder glaubt es nicht!« sagte der Vorsteher. »Ich habe vorhin mit ihm gesprochen, er aber in seiner Verstocktheit hat den Boten der Gnade und des Friedens von sich gewiesen. Er wird dahin kommen, wo Heulen und Zähneklappern ist.«
    »Marie – Marie – mir wird – mir wird so schlimm – so sehr schlimm – so sehr schlimm,« klagte die Blinde.
    Das arme Mädchen wollte die alte Frau stützen und aufrecht halten; aber es gelang ihr nicht. Schwer wie Eisen glitt die Blinde zu Boden nieder, mitten in das Blut hinein.
    »Der Herr ist ein gerechter und eifriger Gott, der da heimsuchet die Sünden der Väter an den Kindern bis in’s dritte und vierte Glied! Denen aber, welche seine Wege wandeln, läßt er seine Gnade leuchten bis in alle Ewigkeit.«
    Mit diesen Worten entfernte sich der fromme Bote des Friedens. Er, dessen Beruf es war, Segen zu spenden, hatte den Fluch gebracht. Er, der Bote und Verkündiger des Lebens, hatte den Tod gegeben. Er ließ eine Leiche zurück und eine Ohnmächtige, Beide im Blute liegend, und um sie jammerten und klagten ein reines unschuldiges Mädchen und die nun zu Waisen gewordenen Kleinen.
    Bald darauf betraten Polizisten das Haus, um im Auftrage des öffentlichen Anklägers in den Wohnungen der Gefangenen eine strenge Haussuchung zu halten. Diese Letztere war natürlich resultatlos. Aber das Elend, welches sie fanden, flößte ihnen das tiefste Mitleid ein. Die Leiche Bertram’s war bereits starr geworden. Die Kinder hockten, leise schluchzend, in der Ecke, Marie saß, in starren, wortlosen Schmerz versunken, bei dem todten Vater, und auf einem alten Scheuerkissen saß Frau Fels. Als die Beamten den Versuch mit ihr machten, sie zum Sprechen zu bringen, gab sie nur unarticulirte Töne von sich, welche wie »eingebrochen«, »arretirt« und »im Zuchthause« klangen und kaum verstanden werden konnten. Der Armenarzt, welcher schnell geholt wurde, erklärte, daß sie irrsinnig geworden sei. Der Todte wurde in das Leichenhaus, die Blinde in die städtische Anstalt für Geisteskranke und die Kleinen in das Waisenhaus gebracht. Marie erhielt die Weisung, das Logis zu reinigen und daselbst zu verbleiben, bis der Vormund, welcher den Kindern gegeben werden mußte, anderweite Maßregeln getroffen habe.
    Sie nahm diesen Befehl hin, ohne zu antworten, und ließ auch die Entfernung des Todten und der Lebendigen geschehen, ohne sich vom Platze zu rühren. Es hatte ganz und gar den Anschein, als ob auch sie irrsinnig geworden sei.
    Der Vorsteher hatte sich nicht in seine Wohnung, sondern zur Vormundschaftsbehörde begeben, um zu melden, was geschehen sei, und in welcher geistlichen Verwahrlosung er die Hinterlassenen getroffen habe. Er wurde darauf gefragt, ob er sich der Sorge der Vormundschaft unterziehen wolle, und er antwortete: »Es ist Gottes Wille, in welchem ich mich füge. Ich werde wachen und beten, damit mir die Freude werde, die Verirrten auf den Pfad des Heiles zurückzuführen!«
    Von da begab er sich zum Baron von Helfenstein, der ihn auch sofort bei sich vorließ. Er grüßte in seiner gewöhnlichen, salbungsvoll-unterthänigen Weise und sagte: »Heute bringe ich Euer Gnaden wichtigere Botschaften, als bei meinem letzten Besuche. Darf ich Sie mit denselben behelligen?«
    »Setzen Sie sich und sprechen Sie!« antwortete der Baron, auf einen Sessel deutend.
    Herr Seidelmann folgte diesem Gebote und begann:
    »Zunächst habe ich zu melden, daß die Bertram’s die Miethe bezahlt haben!«
    »Wirklich?« erklang es verwundert. »Woher mögen sie das Geld erhalten haben?«
    »Von einem Juden aus der

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