Der verlorne Sohn
Jemand beim Baron gewesen wäre?«
»So spät? Man würde es nicht glauben.«
»Höchst wahrscheinlich doch. Hätte ich den Baron getödtet, so wäre derselbe doch von diesem Jemand todt aufgefunden worden und es hätte sofortige Anzeige erfolgen müssen. Das ist aber nicht geschehen.«
Er warf einen forschenden Seitenblick auf sie und fragte, indem seine Stimme einen belegten Klang annahm: »So! Hm! Wollen Sie mir nicht eingestehen, daß dieser Jemand in das Reich der Fabel gehört?«
»Haben Sie vielleicht jemals bemerkt, daß ich gern fabulire?«
»Allerdings nicht. Sie sind mir im Gegentheil stets als realistisch, ja sogar als materiell oder substantiell vorgekommen. Aber heut will es mir scheinen, daß auch Sie es mit jenem berühmten Unbekannten zu thun haben, welcher in Untersuchungssachen eine so große Rolle zu spielen pflegt.«
»Sie wären zu dieser Vermuthung nur dann berechtigt, wenn mir Derjenige, von welchem ich behaupte, daß er nach mir beim Baron gewesen sei, nicht bekannt gewesen wäre. Ich habe ihn aber so genau recognoszirt, daß er der Strafe unmöglich entgehen kann. Ich weise nach, daß er der Mörder ist.«
»Donnerwetter!« rief er, sich von seinem Sitze erhebend. »Sie scheinen an jenem Abende ja ganz bedeutend spionirt zu haben!«
»Ich gebe das zu, füge aber die Bemerkung bei, daß ich Ursache dazu hatte. Ich war von einem Herrn, welcher vorgab, mich zu lieben, in den Garten bestellt worden. Er nahm diese Bestellung zurück. Dies erregte mein Mißtrauen und darum beobachtete ich ihn.«
Es begann ihm vor den Augen zu flimmern.
»Meinen Sie etwa mich?« fragte er. »Ich entsinne mich, an jenem Abende mit Ihnen ein Rendezvous für Mitternacht verabredet zu haben.«
»Ja, Sie sind es, welchen ich meine!«
»Sie irren! Sie haben einen Anderen für mich gehalten!«
»O nein!« lächelte sie. »Liebende pflegen einander genau zu erkennen. Ich ahnte allerdings nicht, was geschehen war; aber ich wollte gern wissen, was Sie zu so später Stunde noch bei dem Barone zu thun gehabt hatten. Darum wollte ich mich unter irgend einem plausiblen Vorwand zu diesem begeben, bemerkte aber, daß Sie den Schlüssel abgezogen hatten. Er fand sich in der Tasche Brandt’s. Sie haben im Walde Gelegenheit gefunden, ihn da hinein zu eskamotiren.«
»Weib! Mädchen!« rief er. »Was fällt Ihnen ein! Sie wollen sagen, daß ich der Mörder bin?«
»Ja,« antwortete sie ruhig und bestimmt.
»Sie sind nicht bei Sinnen! Sie leiden an Halluzination!«
»Ich habe diese Krankheit niemals gekannt. Sie wissen, daß neben den Anderen auch wir Beide, Sie und ich, in der Residenz zu erscheinen haben, um während der Verhandlung gegen Brandt als Zeuge zu dienen. Ich habe aus Rücksicht für Sie bisher gezögert; nun aber werde ich endlich die Wahrheit sagen müssen.«
»Warum haben Sie bisher geschwiegen?« fragte er beinahe höhnisch. »Man wird Ihnen nun nicht glauben!«
»Vielleicht doch. Ich hatte zwei sehr triftige Gründe, zu schweigen. Ihnen kann ich sagen, daß ich aus Rache gegen Brandt schwieg, da er die eigentliche Ursache vom Tode meines Bruders ist, und aus Liebe zu Ihnen, den ich nicht unglücklich machen wollte. Den Richtern aber werde ich sagen, daß mir die Verantwortlichkeit, welche ich auf mich zu laden habe, anfänglich zu schwer erschienen sei. Es handelt sich jedenfalls um ein Todesurtheil. Ich glaubte, daß man den Schuldigen auch ohne mich entdecken werde. Nun aber, da ich sehe, daß ein Unschuldiger verurtheilt werden soll, muß eine jede falsche Bedenklichkeit schwinden. Sie sehen ein, daß meine Aussage eine außerordentliche Wirkung hervorbringen wird.«
»Sie wird aber doch eine falsche sein!«
»O nein! Ich habe ganz genau erkannt und kann tausend Eide schwören, daß Sie es waren. Brandt behauptet, nicht geschossen zu haben, und Sie befanden sich unbemerkt in seiner unmittelbaren Nähe. Man wird diese Aussage mit der meinigen vergleichen; man wird weiter schließen und forschen; man wird zu Ergebnissen kommen. Mit einem Worte: man wird Sie an Brandt’s Stelle in die Untersuchungszelle sperren.«
Er mußte einsehen, daß die Perspektive, welche sie ihm hier stellte, eine große Wahrscheinlichkeit für sich habe; er starrte ihr eine ganze Weile lang wortlos in das Gesicht, wendete sich dann rasch ab, schritt einige Male im Zimmer auf und ab und sagte endlich, vor ihr stehenbleibend: »Wissen Sie, daß Sie ein Ungeheuer sind?«
»Ah! Wer ist ungeheuerlicher und abscheulicher,
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