Der verlorne Sohn
weh! Seit wann?«
»Heute ist Donnerstag. Am Sonnabend habe ich das letzte Mal gegessen.«
»Herrgott! Ist’s wahr?«
»Leider! Mir ist’s schlecht ergangen.«
»Und da kommst Du nicht zu uns?«
»Was soll ich bei Euch? Ihr habt für Euch zu sorgen.«
»Da sehe mir Einer den Menschen an! Wenn ein Bruder hungert, kann der andere doch wohl mit hungern!«
Die Müllerin musterte ihren Schwager mit einem Blicke, in dem sich die tiefste, wärmste Theilnahme aussprach. Es war ihr anzusehen, daß sie eine gutmüthige, menschenfreundliche Frau war. Nur lag es heute, wie bereits gesagt, wie Wolken auf ihrem sonst so freundlichen Angesichte.
»Wie geht’s der Schwägerin?« fragte sie.
»Davon nachher! Jedenfalls nicht so luxurios wie Euch. Ihr habt Braten, eine warme Stube, und – wie ich zu meiner Freude schon vom Weiten bemerkte – auch Arbeit. Ich hörte die Mühle klappern, bereits ehe ich sie sah.«
»Ja, Gott sei Dank, Arbeit haben wir,« sagte der Müller. »Wenn es nur so bleiben wollte!«
Die Müllerin ließ trübe den Kopf sinken. Man sah es ihr an, daß ihr eine Bemerkung auf die Lippen kam, aber von ihr unterdrückt wurde.
Am Schlusse des Mahles ertönte draußen die Klingel. Der Müller mußte hinaus, um frisch aufzuschütten. Also befand sich der Musterzeichner mit seiner Schwägerin allein. Er benutzte das, indem er fragte: »Dir liegt Etwas auf dem Herzen?«
»Und wie schwer!« seufzte sie.
»Mangel an Geld oder Arbeit?«
»Etwas anderes.«
»Darf man es erfahren?«
»Er wird es Dir wohl selbst sagen. Aber, Schwager, ich bitte Dich um Gottes willen, rathe ihm ab!«
»Wovon?«
»Du wirst’s noch erfahren.«
»So ist’s etwas Ungutes?«
»Sogar etwas Schlimmes.«
»Da kannst Du Dich darauf verlassen, daß ich ihm nicht zurathen werde!«
»Wende nur Alles an, um ihn davon abzubringen!«
Jetzt kam der Müller zurück. Er warf einen forschenden Blick auf seine Frau und mochte ahnen, daß sie geplaudert habe, denn er fragte seinen Bruder: »Nicht wahr, sie hat nicht schweigen können?«
»Natürlich haben wir miteinander gesprochen!«
»Aber wovon? Hat sie Dir nicht die Noth geklagt?«
»Sie hat mir nichts anvertraut.«
»Na, Du wirst’s auch ohnehin erfahren. Trage ab, Pauline, und komme dann wieder herein! Eheleute müssen aufrichtig gegen einander sein. Du mußt auch hören, was der Bruder dazu sagt.«
Sie gehorchte dieser Aufforderung und nahm dann, als sie fertig war, bei den beiden Männern wieder Platz.
»Nun zunächst zu Dir!« begann der Müller. »Also daheim geht es schlecht?«
»Schlechter wie jemals. Es fehlt nicht weniger als Alles.«
»Daß Du nichts zu beißen hast, hast Du schon gesagt. Bei uns war es auch so.«
»Keine warme Stube!«
»Herrgott! In dieser Kälte! Konntest Du nicht zu uns kommen? Ein Füderchen Holz oder Reisig hätte ich schon noch für Dich gehabt.«
Wilhelmi antwortete hierauf nicht, sondern fuhr fort:
»Die Älteste ist todt.«
»Doch nicht! Wann?«
»Vor drei Stunden wohl.«
»Welch’ ein Herzeleid! Es war so ein gutes Kind!«
Der Müllerin traten die Thränen in die Augen. Wilhelmi sah es, und nun war es ihm nicht länger möglich, die so lang beherrschte Wallung zurück zu halten. Er weinte laut auf, legte die Arme auf den Tisch, den Kopf darauf und schluchzte zum Erbarmen fort.
Der Müller wollte ein tröstendes Wort sprechen, aber seine Frau winkte ihm ab. Sie hatte Recht. Wenn der Musterzeichner sich ausweinte, so wurde ihm das Herz leicht. So ließen sie ihm gewähren, bis er den Kopf von selbst wieder erhob und sich die Thränen trocknete.
»Ihr dürft Euch nicht wundern, daß es hier losbricht,« sagte er. »Aber daheim darf ich mir doch nicht merken lassen, wie es mir zu Muthe ist«
»Du hast es recht gemacht, Schwager,« sagte die Müllerin. »Nun ist die Last vom Herzen weg, und Du kannst reden. Das Kind ist zwar todt, und das thut Einem innig wehe; aber Du mußt Dir sagen, daß es ihm wohl ist!«
»Das gebe ich zu, Schwägerin. Wenn es nur nicht eines so grausamen Todes gestorben wäre!«
»Grausam? Wieso? Doch an den Blattern?«
»Ja, aber es ist erstickt und verhungert.«
»Herrgott! Ist’s wahr?«
»Ja. Die Pocken hatten sich zolldick über das Gesichtchen gelegt. Der Mund und das Näschen wurden zu.«
»So mußte der Arzt schneiden?«
»Er kam aber nicht!«
»Du hast nach ihm geschickt?«
»Geschickt und bin auch selbst dort gewesen. Er ist doch nicht gekommen. Wird ein Reicher krank, dem es nur am
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