Der verlorne Sohn
eine Nachricht zu bringen, welche zugleich gut und auch schlimm ist. Nämlich Gustav ist entflohen, und man wird kommen, ihn hier zu suchen!«
Das Ehepaar that gar nicht so erschrocken, wie sie es erwartet hatte. Der Förster antwortete einfach:
»Sie mögen nur immer kommen!«
»So haben Sie wohl gar keine Angst? Ich bin erst vor Schreck halb todt gewesen, und dann aber sogleich herbei geeilt, um Sie zu warnen, damit er nicht hier ergriffen wird!«
»Mein Kind, wie können Sie erschrecken! Sie haben ihn ja für schuldig gehalten, und ein Schuldiger verdient kein Mitleid!«
Da warf sie sich der Försterin um den Hals und schluchzte:
»Vergieb mir! Oh, ich war betört; ich war bös, sehr bös! Aber ich sehe ein, daß ich unrecht gehandelt habe. Ich habe eingesehen, daß er unschuldig ist und daß ich ihn in das Verderben stürzte.«
»Nun, so schlimm ist es denn doch wohl nicht!«
»O, der König sagte es auch!«
»Er wird wohl seine Absicht dabei gehabt haben. Sicher ist, daß der Verdacht auch ohne Sie auf Gustav gefallen wäre.«
»O, ich war so froh, als ich hörte, daß es ihm gelungen ist, zu entkommen. Er wird sicherlich zuerst die Eltern aufsuchen, und dann, ja dann ist er verloren!«
»Das wollen wir abwarten! Aber was ist das in Ihrer Hand?«
»Ich begegnete einem Reiter, einem Fremden, welcher mich bat, dieses Couvert dem Förster von Helfenstein zu geben. Der Mensch wagte es, mir dreimal die Hand zu küssen!«
Die beiden Leute lächelten einander an. Der Förster nahm das Couvert, öffnete es, warf einen Blick auf die Karte und gab sie ihr dann zurück.
»Lesen Sie selbst!« sagte er.
Sie las. Auf ihrem Gesichte wechselte die Röthe mit der Blässe. Sie umarmte die Försterin abermals und rief jubelnd:
»Er war es, er? Oh, so werden sie ihn nicht erkennen! Er wird entkommen. Und er hat mir verziehen, verziehen, verziehen!«
Nun ging es an ein Erklären. Auf der Karte hatte gestanden:
» Verzeiht ihr so wie ich ihr verzeihe! Sie war und bleibt mein einziger, mein lieber, süßer Sonnenstrahl! «
Zweites Kapitel
Das Opfer des Wüstlings
Der gewaltigste der Dichter und Schriftsteller ist – – das Leben. Es ist weder von Shakespeare, Milton und Scott, von Dante, Tasso und Ariost, noch von Göthe, Schiller und Anderen erreicht oder gar übertroffen worden. Das Leben schreibt mir diamantenem Griffel; seine Schrift ist unvergänglich, seine Logik unbestechlich, seine Charakteristik von unveränderbarer Treue, seine Schilderung hinreißend und von herzergreifender Wahrheit. Was es darstellt, ist wirklich geschehen; die Personen, welche es handelnd aufführt, haben wirklich gelebt oder leben noch. Es giebt keinen Redacteur, keinen Kritiker, keine Censur, überhaupt keine irdische Feder, welcher es erlaubt wäre, von dem Manuscripte der wirklichen Thatsachen auch nur einen Buchstaben zu streichen.
Das Leben arbeitet in unendlicher Rastlosigkeit, und nur, wenn der Blick des Sterblichen, von der Colossalität des Allgemeinen überwältigt, sich auf das Besondere und Einzelne richtet, kann es zuweilen scheinen, als ob die Geschichtsschreiberin der Welt-und Erdenentwicklung einmal die Feder ermüdet aus der Hand gelegt habe. Pausen scheinen eingetreten und Gedankenstriche gemacht worden zu sein. Personen sind verschwunden und Ereignisse in Stillstand versunken. –
Dem ist aber nicht so! Ueber eine kleine Weile – und solche kurze Pausen können im Zeitengange Jahrzehnte und Jahrhunderte bedeuten – entwickeln sich aus den scheinbaren Gedankenstrichen Buchstaben und Worte, welche in deutlicher Lesbarkeit beweisen, daß im Uebergange des Geschehenen zum Gegenwärtigen und Zukünftigen unmöglich eine auch nur sekundenlange Pause eintreten kann.
Die Gegenwart schlägt ihre Wurzel stets in die Vergangenheit. Wer die Erstere begreifen will, muß unbedingt die Letztere kennen. – So ist es auch bei der ebenso großartigen wie räthselhaften Erscheinung, welche der » Fürst des Elendes « bietet. Sie kann nur Dem erklärlich sein, welchem die Erlaubniß zu Theil wird, einen Blick in die Vergangenheit dieses außerordentlichen Characters zu thun. Dieser Blick ist durch das bisher Erzählte ermöglicht worden, und nun kann das rastlos schaffende Leben seinen Griffel zur Fortsetzung auf die eherne Tafel der Geschichte richten.
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Ungefähr zwanzig Jahre waren vergangen. Am heutigen Tage, an
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