Der Drachenflüsterer - Der Drachenflüsterer
PROLOG
B en war elf Jahre alt und erkältet, als er den Ordensritter auf dem befreiten Drachen durch Trollfurt reiten sah. Milde Herbstwinde wehten von den schneebedeckten Berggipfeln herunter, und die ersten bunten Blätter sammelten sich raschelnd im Rinnstein der grauen Hauptstraße.
Der Drache hatte kohlschwarze Schuppen und war bestimmt zehn Schritt lang, sein mit kantigen Hornsplittern übersäter Schwanz schrabbte zwischen den verdreckten Fahrrinnen über das Pflaster. Die Schulterknubbel hinter seinem kräftigen Hals waren frisch vernarbt; hier hatten ihn bis vor kurzem Samoths fluchbeladene Flügel versklavt, nun war er flügellos und frei. Freundlich blickten die großen hellgrünen Augen über die lange Schnauze in die Welt, zugleich strahlte sein majestätischer Körper Stärke und Macht aus.
Voller Ehrfurcht und atemlosem Staunen lief Ben mit einer ganzen Horde Jungen neben dem Fremden her.
Hinter ihnen ritt eine schöne junge Frau mit golden schillerndem Kopfschmuck auf einem schwarzen Pferd und führte einen mit allerlei Gepäck beladenen Schimmel am Zügel, doch Ben beachtete sie nicht. Er hatte nur Augen für den Drachen und seinen Ritter.
Dieser trug keinen Helm, die langen dunklen Haare wehten im Wind, und das erschöpfte, kantige Gesicht war unrasiert. Sein Kettenhemd aus wertvollem, gedämpftem Blausilber schimmerte selbst an diesem bewölkten Tag hell und klar, auch wenn es nicht von selbst leuchtete wie reines Blausilber, das im
tiefen Fels ruhte. Kein Rost, kein Schmutz, kein Schatten konnte den Glanz von Blausilber trüben. Die rote, ärmellose Tunika mit dem stilisierten gelben Drachenkopf, dem Symbol des Ordens, war von Reise und Kämpfen verdreckt, doch der Ritter lächelte und winkte den Kindern zu, und Ben war sicher, dass er gerade ihn besonders lange angesehen hatte.
Deshalb nahm Ben all seinen Mut zusammen und näherte sich dem Drachen im Lauf, berührte die schwarzen Schuppen, die sich ganz kühl und rauer anfühlten, als er gedacht hatte, nicht so glatt wie ein perfekter Flussstein oder gar ein Fingernagel. Fast wie die Hornhaut auf seiner Fußsohle, nur noch härter und unverletzbar. Die Berührung kribbelte, so aufgeregt war Ben, und er zog die Hand schnell wieder zurück. Dabei musste er niesen.
Die anderen Jungen hatten es gesehen und drängten ihn nun ab, um ihrerseits den Drachen zu berühren. Sie schoben ihn einfach zur Seite wie immer, wenn er ihnen im Weg war.
»Vorsicht, Kinder«, brummte der Ritter, als das Gedränge um ihn zu eng wurde. »Nicht, dass einer unter Nachthimmels Füße stürzt.«
Nachthimmel. Lautlos wiederholte Ben den Namen des Drachen, flüsterte ihn sich vor, während er von den zurückweichenden Jungen noch weiter abgedrängt wurde und sich ein trockener Husten seiner Kehle entrang. Neugierige Mädchen wurden von ihren besorgten Eltern zurückgehalten, welche ebenfalls auf die Straße geeilt waren, um den Ritter zu betrachten und ihm Grußworte zuzurufen, die er freundlich erwiderte. Viel zu lange war kein Mann des Ordens mehr hier gewesen.
Auf dem Marktplatz bog der Ritter in die alte Handelsstraße ein, die den rauschenden Dherrn hinabführte, hinaus aus
der Stadt, vorbei an Weiden und Feldern und dann durch den Wald ins Landesinnere. Ohne anzuhalten, nicht einmal, um die Tiere zu tränken, verließ er die Stadt, noch immer lächelnd und grüßend. Die Erwachsenen tuschelten und schimpften, weil er nicht einmal auf ein Bier geblieben war, um Geschichten aus der Ferne zu erzählen. Mit verbitterten Gesichtern murmelten sie, dass der Orden der Drachenritter Trollfurt vergessen habe.
»Schlimme Zeiten brechen an«, brabbelte der weißhaarige Konaan, der nur noch einen einzigen Zahn im Mund hatte und jeden Herbst das Ende der Stadt kommen sah, an gewitterdunklen, stürmischen Abenden gar das Ende der Welt.
Doch Ben war dies alles egal. Er hatte einen Drachen gesehen!
Lachend lief er nach Hause, stürmte in das kleine Haus am linken Flussufer, in dem er mit seiner Mutter lebte, und rief: »Mama! Ich will Drachenritter werden! Ich...«
»Wo warst du?«, unterbrach sie ihn scharf. »Du bist krank.« Eine Strähne war dem ausgeblichenen Haarband entkommen und hing ihr ins ausgemergelte Gesicht mit den blassen, schmalen Lippen. Eine dünne Schicht Mehl bedeckte ihre bloßen Arme, und auch auf dem abgetragenen, ehemals nachtblauen Rock waren Flecken aus staubigem Weiß zu erkennen. Mit den Händen stützte sie sich auf der Tischplatte ab, bis eben
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