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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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daß er ein so reiches Geschenk gar nicht erwartet hatte.
    Das leise weinende Mädchen hatte das gesehen. Sie erhob sich aus dem Schnee und sagte in bittendem Tone, welchem das Weinen anzuhören war:
    »O, Madame, schenken Sie mir doch auch Etwas!«
    Die Angeredete näherte sich ihr und fragte mild:
    »Du weinst, meine Kleine? Dich friert wohl sehr?«
    »Mich friert, und mich hungert. Es kauft mir Niemand Etwas ab, und wir haben nichts zu essen.«
    »Was ist Dein Vater?«
    »Holzspalter. Er hat sich mit der Axt in das Bein gehackt, und nun kann er nicht arbeiten.«
    »Hast Du eine Mutter?«
    »Ja; sie ist Waschfrau. Sie hat sich erkältet; da bekam sie die Gicht, und nun kann sie die Hände und die Füße nicht mehr bewegen.«
    »Hast Du auch noch Geschwister?«
    »Noch fünf. Ich bin die Große.«
    »Welches Elend! Ich brauche keine Hampelmänner, aber ich werde auch Dir Etwas schenken. Hier hast Du Geld und diese Karte; da steht mein Name und meine Wohnung drauf. Gehe jetzt nach Hause, und bringe das Deinem Vater. Er mag zu mir kommen oder schicken, wenn er mehr braucht. Du sollst nicht wieder Hampelmänner feil halten und so frieren wie heute.«
    Ihre Stimme hatte so einen süßen, sympathischen Ton. Diese Dame mußte ein tiefes, herzensgutes Gemüth besitzen!
    Sie hatte sich kaum entfernt, so trat der Mann herbei, welcher während dieser Szene näher getreten war, um zu hören, was gesprochen wurde.
    »Was hat sie Dir gegeben?« fragte er das Mädchen. »Zeig her!«
    Er sagte dies in einem so befehlenden Tone, daß sie es nicht wagte, sich zu sträuben. Sie hatte drei Thaler erhalten, und auf der Karte stand eine Freiherrenkrone und darunter der Name »Alma von Helfenstein«.
    »Du hast gebettelt!« sagte der Mann.
    »Nein; ich habe verkauft!« entschuldigte sich das Kind.
    »Schweig! Ich habe gehört, daß Du sagtest, sie solle Dir auch Etwas geben. Gebettelt darf nicht werden. Deine Hampelmänner sind nur als Deckmantel dieses Unfuges da! Nimm sie und komm mit!«
    Er trat zu der Höckerin, zeigte ihr seine Marke und sagte:
    »Hier! Damit Sie sehen, daß ich Polizist bin. Vorwärts, Mädchen!«
    Sie begann jetzt laut zu weinen, viel lauter als vorher. Sie machte sogar den Versuch, eine Bitte auszusprechen. Es half ihr nichts; sie mußte ihm folgen; das arme Kind, vor einigen Minuten noch so glücklich über die drei blanken Thaler, wurde arretirt. –
    Ganz um dieselbe Zeit schritt ein Mann, der in einen warmen Ueberzieher gehüllt war, über den Hauptmarkt und trat in eines der schönsten Gebäude dieses Platzes. Ein Portier in Livree empfing ihn und that ihm durch ein freundliches, halb respectvolles Kopfnicken kund, daß er passiren könne.
    Der Fußboden bestand aus Marmor, ebenso die Treppe. Warme Lüfte wehten hier, denn der ganze Palast wurde durch Luftheizung gegen die Kälte des Winters geschützt.
    Droben wurde der Mann von einem Diener empfangen, der ihn zu kennen schien und ihm den Ueberzieher abnahm.
    »Guten Abend, Herr Seidelmann« grüßte er.
    »Guten Abend, lieber Friedrich! Ist der Herr Baron noch zu sprechen?«
    »Ja, ich werde Sie sogleich melden!«
    Der Diener ging, um dieses Versprechen zu erfüllen. Herr Seidelmann trat an einen Spiegel, strich sich sein weniges Haar auf dem kahlen, glänzenden Scheitel zurecht, zupfte an seinem weißen Halstuche herum, gab seinem Gesichte einen möglichst ehrwürdigen Ausdruck und trat sodann durch die Thür, welche der Diener ihm soeben öffnete.
    Aus der gegenüber liegenden Thür trat – Baron Franz von Helfenstein. Er war in den zwanzig Jahren magerer geworden, viel älter eigentlich nicht; aber sein Gesicht hatte jenes eigenthümliche Etwas an sich, welches den Roué kennzeichnet und den Menschen, welcher nur durch künstliche Mittel den Schein zu bewahren vermag, daß er sich noch im Besitze der körperlichen Frische befinde.
    Herr Seidelmann machte eine tiefe Verneigung und sagte:
    »Verzeihung, daß ich störe, Herr Baron! Ich komme, mir meine Instructionen zu holen.«
    »Allgemeine oder besondere?« fragte Helfenstein, während er sein Monocle in die Augenhöhle befestigte.
    »Beides!«
    »Dazu habe ich leider jetzt keine Zeit. Man hat mir die Ehre erwiesen, mich zum Dirigenten des hiesigen Armenwesens zu ernennen. Es war mir das nicht lieb, ja, einigermaßen fatal, da es meine Zeit, welche ich anderweit so nothwendig brauche, fast ganz absorbirt. Sie, mein Ehrwürdigster, nehmen mir zwar ein gut Theil der Arbeit ab; aber es bleibt mir dennoch

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