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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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das Einzige. Aber Ihre Schwäche!«
    »Ich bin stark, ich bin gesund! Nur einen Wagen, einen Wagen her, Herr Inspector!«
    »Unten hält ein Lohnkutscher, welcher auf die Passagiere des nächsten Zuges wartet. Sie dürfen ihm aber nicht sagen, daß Sie nach Helfenstein und dem dortigen Forsthause wollen. Sie müssen sich erst unterwegs darauf besinnen.«
    »Sie sind ein kluger und vorsichtiger Mann. Ich werde Ihnen gehorchen. Aber die Depesche!«
    »Hm!« lächelte der herzensgute Mann. »Ich finde, daß ich da einen fatalen orthographischen Schnitzer gemacht habe. Ich habe mich in der Eile verschrieben, gerade wie ein Schulknabe. Ich sehe, daß ich die Depesche noch einmal abschreiben muß, und ich hoffe, daß ich nicht durch etwas noch Anderes dabei gestört werde. Wie gut, daß ich das heute selbst besorgen muß, weil der Thelegraphist seinen freien Tag hat. Soll ich den Lohnkutscher schicken?«
    »Ja! Sogleich! Bitte!« antwortete sie.
    Sie fühlte sich so stark, so wohl, so unternehmend, wie in ihrem ganzen Leben noch nicht. Sie umarmte die Inspectorin und sagte:
    »Ihr Gemahl ist ein Engel! Adieu! Ich muß eilen! Aber wir sehen uns bald wieder!«
    Ihr Diener war auf kurze Zeit nach Schloß Hirschenau gegangen, um sich die Brandstelle zu besehen; sie brauchte sich mit ihm nicht zu befassen. Sie fand den Kutscher bereits ihrer wartend und sagte ihm den Namen eines benachbarten Dorfes. Erst unterwegs, als die Wege auseinander gingen, bemerkte sie ihm, daß sie sich anders besonnen habe und zunächst nach der Helfensteiner Försterei müsse.
    Der Weg führte durch den Wald und war so schmal, daß sich stellenweise nicht zwei Wagen ausweichen konnten. Gerade an einer solchen Stelle begegnete ihr ein Reiter. Er drängte sein Pferd ganz an den Rand des Hohlweges, und ihr Geschirr kam so nahe an ihn heran, daß die beiden Pferde in einen kurzen Zwist gerieten. Der Kutscher hielt an.
    Der Reiter mochte etwas über dreißig zählen, war zwar nicht elegant, aber doch sehr anständig gekleidet und hatte etwas Fremdländisches. Er griff an seinen Hut und sagte:
    »Entschuldigung, mein Fräulein, daß ich Ihre Reise unterbreche. Ich habe mich im Walde verirrt. Wo komme ich nach der nächsten Bahnstation?«
    »Sie liegt da, woher ich komme,« antwortete sie, den eigenthümlichen Wohlklang seines Dialectes bewundernd. Er sprach das Deutsche wie ein Italiener.
    »Und wohin führt der Weg, den ich komme? Ich stieß von der Seite her auf ihn.«
    »Nach einem einsamen Forsthause.«
    »Nach welchem Orte gehört dasselbe?«
    »Nach Helfenstein.«
    »Ah, ist der Förster ein alter Herr mit grauem Schnurrbart?«
    »Ja.«
    »Ich traf ihn heute früh im Walde und vergaß, ihn um Etwas zu fragen. Würden Sie mir erlauben, Ihrem Kutscher – aber Sie fahren wohl gar nicht nach dem Forsthause?«
    »O doch! Ich fahre direct hin. Wenn ich Ihnen einen Dienst erweisen kann, so bin ich gern bereit dazu.«
    »O bitte, nur eine Zeile im Couvert dem Förster durch den Kutscher hier übergeben zu lassen!«
    »Ich selbst werde es ihm übermitteln, mein Herr!«
    »Dann erlauben Sie!«
    Er zog ein Täschchen hervor, schrieb einige Worte auf eine der darin enthaltenen Karten, steckte dieselbe in ein dazu passendes, kleines Couvert, welches sich bei den Karten befand, verschloß dasselbe und gab es ihr.
    »So, meine Dame! Darf ich danken?«
    Er ergriff das Händchen, welches sein Couvert an sich genommen hatte, bog sich so weit wie möglich zum Wagen nieder und zog es an seine Lippen. Er küßte die Hand ein, zwei, drei Male, drängte dann sein Pferd vorüber und trabte davon.
    Ihr war gar eigenthümlich zu Muthe geworden. Wie konnte dieser Fremdling es wagen, dreimal zu küssen?
    Der Kutscher hatte jetzt Platz und fuhr weiter. Als das Geschirr bei dem Forsthause anhielt, trat der Förster aus der Thür. Er sah gar nicht so aus wie ein Mann, der so Schlimmes erlebt hat und dem ein neues Unheil droht, so heiter sah er aus. Er half ihr beim Aussteigen. Sie gab ihm ihre beiden Hände und sah ihm bittend in die Augen, indem in die ihrigen die Tränen traten.
    Er nickte ihr gütig zu und sagte:
    »Ich weiß; ich weiß. Kommen Sie nur herein, Baronesse!«
    Drin kam ihr auch die Försterin entgegen, um ihr die Hand zu geben. Wie oft war sie in diesem Hause, in diesem Stübchen gewesen, und welches Glück hatte – aber zu solchen Reflexionen gab es jetzt keine Zeit! Sie wendete sich an die beiden Alten und sagte:
    »Papa und Mama Brandt, ich komme, um Ihnen

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