Der verlorne Sohn
welchem man den letzten November schrieb, war ein tiefer Schnee gefallen; dann hatte sich das Wetter aufgeklärt, und jetzt, am Abende, gab es eine Kälte, welche die Glieder zu durchschneiden schien.
Es war der erste Tag des Weihnachtsmarktes. Die Läden waren doppelt hell erleuchtet als sonst; auf den Straßen und Plätzen standen zahlreiche Buden, in welchen Alles zu haben war, worauf sich die weihnachtlichen Wünsche nur immer erstrecken konnten. Die Käufer, reich oder armselig bekleidet, durchstampften den Schnee, um sich die Waaren anzusehen, und die Verkäufer gaben sich die erdenklichste Mühe, ihre Auslagen an den Mann zu bringen.
Eigentlich hätte man sagen können, daß Reich und Arm geschieden sei. Es gab Plätze, wo nur der von dem Glück Bevorzugte kaufen konnte, während in den abgelegeneren und düstereren Winkeln und Gassen Diejenigen sich zurückgezogen hatten, deren Waaren mehr für die Mittel Derjenigen geeignet waren, welche mit den Sorgen des Lebens zu kämpfen haben und doch den Ihrigen gern eine Festfreude machen wollen.
In einem dieser Winkel saß eine Obsthökerin vor ihrem Stande, welcher durch zwei Laternen erleuchtet war. Sie saß auf einem Schemel, unter welchem ein Becken mit glühenden Holzkohlen stand. Ihren weiten, dicken, altmodischen Mantel hatte sie so um sich geschlagen, daß er rund um den Schemel herum den Boden erreichte. Auf diese Weise ging von der Wärme der Kohlengluth gar nichts verloren.
Ihr zur Rechten stand ein kleines, wackeliges Tischchen, auf dem ein Häufchen aus Binsenmark geflochtene Vogel-oder vielmehr Taubengestalten zu sehen war. Man sieht solche Figuren oft an den Zimmerdecken armer Leute hängen und nennt sie ›heilige Geister‹.
Ihr zur Linken war der Schnee in einem kleinem Vierecke gleich mit den Händen entfernt worden, und auf diesem Fleckchen Erde stand ein Dutzend kleiner Holzfiguren, roh mit der Hand geschnitzt, mit Wasserfarben bemalt und mit beweglichen Armen und Beinen versehen.
Vor dem Tischchen zur Rechten stand ein Knabe, welcher ungefähr dreizehn Jahre alt sein mochte. Er strampelte mit den Beinen und schlug die Arme übereinander, denn es fror ihn gewaltig.
Vor den Holzfiguren kauerte ein vielleicht elfjähriges Mädchen. Sie war nur mit einem dünnen Röckchen und einem eben solchen Kopftuch bekleidet und hatte einen alten, zerrissenen Frauenspenser um sich hängen, welcher ihrer Mutter oder Großmutter gehören mochte. Weil er ihr im Stehen nicht bis auf die Füße reichte, hatte sie sich in den Schnee gekauert, um ganz bedeckt zu sein. Doch zeigte das Schütteln, welches ihre kleine Gestalt immer öfterer überlief, daß ihr die Kälte gar sehr zu schaffen machte.
In der Ferne sah man Droschken oder reiche Equipagenschlitten mit gallonirten Kutschern und Bedienten vorüberfliegen; die Strahlen der Ladenlichter glänzten verlockend herüber; hierher aber kamen gewiß nur Personen, welche kaum jemals in einem Schlitten gesessen hatten oder in einem solchen Laden gewesen waren.
Und näherte sich ja Jemand, so begann sogleich der Concurrenzstreit:
»Äpfel, schöne Weihnachtsäpfel, meine Herrschaften!« rief die Obstfrau. »Die Birne blank, süß und saftig; der reine Zucker und Honig!«
»Heilige Geister, schöne heilige Geister; ganz neu!« rief der Junge, vor Kälte strampelnd. »Seien Sie doch so gut, und kaufen Sie mir einen ab! Sie halten einen ganzen Winter lang und noch darüber hinaus!«
Und das kleine Mädchen zur Linken erhob ihr zaghaftes Stimmchen:
»Hampelmänner und Strampelmänner! Die Arme und Beine wackeln so schön, wenn man am Bindfaden zieht!«
Hier und da kaufte sich Jemand einiges Obst; aber die beiden Kinder nahmen keinen Pfennig ein. Das Mädchen weinte endlich vor Frost und Kummer leise vor sich hin.
Zwischen den nahe liegenden Buden ging ein Mann auf und ab, welcher sein Augenmerk auf diese Gruppe gerichtet zu haben schien.
Da nahte eine Dame, hinter welcher ein Diener mit einem großen Korbe ging.
»Äpfel! Heilige Geister! Hampelmänner!« wurde ihr entgegen gerufen.
Sie trat zu dem Knaben und besah sich dessen Waaren.
»Was ist Dein Vater, mein Kind?« fragte sie mit sanfter Stimme.
»Ich habe keinen Vater. Meine Mutter hat diese heiligen Geister gemacht. Es kostet einer fünfzehn Pfennige.«
»Ich kann keinen gebrauchen; aber weil Du so frierst, werde ich Dir Etwas schenken.«
Sie reichte ihm ein Geldstück hin. Er nahm es, besah es und bedankte sich dann in einem Tone, welcher bewies,
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