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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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erkennen; der Blick war matt und glanzlos, aber unendlich rührend und Mitgefühl erweckend. Ihr nicht zu voller Mund besaß eine schöne Zeichnung, doch hatte er an beiden Winkeln jenes Fältchen, welches der Ernst des Lebens einzugraben pflegte. Der Hals zeigte, soweit er sichtbar war, die schimmernde Weise des Alabasters, und die Taille des Kleides legte sich eng um zwei Schultern und eine Büste, welche zwar nicht allzu voll, aber auch nicht hager genannt werden konnte. Die Hände waren fein und schmal; aber sie zeigten jene Relieflinien, welche eine Folge von Arbeit und körperlicher Entbehrung sind.
    Dieses arme, bedauernswerthe Wesen machte den Eindruck, als ob es sich unter glücklicheren Verhältnissen zu einer blühenden Schönheit hätte entfalten können.
    Die unverschuldete und mit Ergebung getragene Armuth besitzt eine Würde, eine Heiligkeit, an welcher sich der Mann von Bildung und Gefühl niemals zu versündigen vermag. Der Baron aber fühlte sich mit seiner Eroberung sehr zufrieden. Es war einmal eine Abwechslung, gerade so, wie der routinirte Secttrinker auch einmal ein Gläschen Rum oder Arac zu genießen beliebt.
    Sie hatte von dem Weine genippt.
    »Wie gut das ist,« sagte sie. »Es ist, als ob ein neues Leben durch den Körper gehe. Sie haben das Richtige getroffen. Man merkt, daß Sie ein Arzt sind.«
    »Darum müssen Sie meinen Verordnungen strenge Folge leisten. Trinken Sie aus!«
    Er wußte, daß Sie mit einem einzigen Glase einen Rausch bekommen müsse. Diesen Rausch aber mußte sie sich antrinken, um ihm keinen Widerstand zu leisten. Sie war aber vorsichtig und antwortete: »Erlauben Sie mir, diese Delicatesse recht langsam und behaglich zu genießen! Gott, wenn Vater an meiner Stelle sitzen und von diesem Weine trinken könnte!«
    »Er wird nachher eine ganze Flasche von demselben erhalten.«
    »Wie gut Sie sind! Und zu welcher Dankbarkeit Sie mich verpflichten, Herr Doctor!«
    Da trat die Kellnerin herein, um den ersten Gang aufzutragen. Das Essen begann. Man merkte, daß die Arme lange Zeit, vielleicht bereits seit mehreren Tagen nichts genossen hatte; aber sie aß mit einer wahrhaft rührenden Langsamkeit und Genügsamkeit. Sie verzehrte nur einen sehr kleinen Theil Dessen, was ihr vorgelegt wurde.
    Nach dem letzten Gange zog sich die Kellnerin zurück. Sie kannte die Verhältnisse nicht und warf beim Hinausgehen einen stolzen, verächtlichen Blick auf das irre geleitete Mädchen.
    »Wie bin ich satt, so satt, wie fast seit Monaten nicht!« sagte die Tochter des Wachtmeisters. »Aber Ihre Frau Gemahlin kommt noch immer nicht!«
    »Sie wird uns nicht mehr lange warten lassen,« antwortete er. »Machen wir es uns bis dahin möglichst bequem.«
    Er erhob sich von seinem Stuhle und ließ sich ohne Umstände auf dem Sopha neben ihr nieder. Ueber ihr Gesicht zuckte es wie ein tiefer Schreck bei dieser unerwarteten Annäherung.
    »Nein, nein; so nicht!« sagte sie. »Ihre Frau Gemahlin darf uns doch nicht so erblicken. Erlauben Sie, daß ich mich auf den Stuhl setze.«
    Sie wollte aufstehen; er aber ergriff ihre Hand, so daß sie ihre Absicht nicht auszuführen vermochte.
    »Bleiben Sie; bleiben Sie getrost!« sagte er. »Meine Frau wird uns nicht überraschen. Ahnen Sie denn wirklich noch immer nicht, daß ich gar nicht verheirathet bin?«
    Sie erbleichte und entriß ihm ihre Hand.
    »Nicht – nicht verheirathet?« fragte sie. »Sie haben mir also die Unwahrheit gesagt? Sie habe mich belogen!«
    »Und ahnen Sie noch immer nicht,« fuhr er lachend fort, »daß ich hier gar nicht wohne? Wir haben in der Restauration gespeist!«
    Da stand sie auf und sagte in ernstem, vibrirendem Tone:
    »Mein Herr, es ist unwürdig von Ihnen, mit dem Unglücke ein solches Spiel zu treiben! Ich werde Sie augenblicklich verlassen!«
    »Nein! Nicht so schnell, mein Liebchen!« sagte er, den Arm um sie legend, und sie trotz ihres Sträubens zu sich niederziehend. »Erst erwarte ich den Ausdruck der Dankbarkeit, von welcher Sie sprachen.«
    Er wollte sie küssen. Sie wehrte sich aus allen Kräften.
    »Lassen Sie mich!« gebot sie ihm. »Ich werde um Hilfe rufen!«
    »Rufe nur, Liebchen, rufe! Ich werde Dir den Mund mit meinen Küssen verschließen. Komm, Herzchen! So! Jetzt! – – Ah! Oh!«
    Er hatte die aus allen Kräften Widerstrebende an sich gezogen. Beide bemerkten nicht, daß die Seitenthür leise geöffnet wurde. Eben, als er seinen Mund dem ihrigen näherte, war er gezwungen, die beiden letzten,

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