Der Vermesser (German Edition)
hatten. An manchen Tagen war Tom davon überzeugt, dass sie ihn verfolgten, zu Tausenden, auf ihren kalten Rattenpfoten, die in der Finsternis scharrten, und nur darauf warteten, dass er stolperte, in die steigenden Fluten fiel oder in den falschen Tunnel abbog. Ein- oder zweimal hatte er versucht, eine zu erschlagen, aber sie waren schneller gewesen. Er hatte nie eine erwischt. Dennoch wusste er, dass sie da waren. Und sobald er einen Fehler beging, hätten sie ihn. Zuhauf würden sie sich auf ihn stürzen, ihm Zähne und Klauen ins Fleisch bohren und ihn bei lebendigem Leib auffressen. Und zwar in null Komma nichts. Wenn der Alte ihn finden würde, wäre von ihm nichts mehr übrig außer ein paar gelben Knochen. Der Alte würde mit der Zunge schnalzen, den Kopf schütteln und die Knochen in seine Tasche stecken. Die Leimsiedereien in Bermondsey nahmen jeden Knochen, den sie kriegen konnten.
Natürlich hatte Tom dem Alten nie davon erzählt. Es war das Beste, was ihm passiert war, dachte Tom, dass er damals am Cuckold’s Point fast ersoffen wäre. Dort hatte man schon Glück, wenn man im Schlamm auf etwas anderes als auf ein Seil, auf Knochen oder gelegentlich ein Stück Eisen stieß. Kohlebrocken waren eine Seltenheit, und fand man einmal eine Münze, konnte man seinen Dusel kaum fassen. Selbst ein junger Bursche schaffte es nur mit Müh und Not, dort sein Auskommen zu finden. Es war im dritten Winter am Point, als er einsank. Danach konnte er sich nur noch daran erinnern, wie verblüfft er war, als ihn der Schlamm nach unten zog und er mit den Füßen vergeblich nach einem festen Halt suchte. Er hatte sich immer damit gebrüstet, jede Ecke dort zu kennen, die Abschnitte, wo man bis zu den Ohren im Schlamm versank, und die Ränder mit festem Untergrund direkt daneben, wo man sicher herumspazieren konnte und der Dreck unter den nackten Füßen härter war als Granit. Andere Burschen gingen wegen des Rufs, den dieser Ort genoss, in Gruppen. Nicht so Tom. Es war sein Revier. Der Schlamm stand ihm schon bis zu den Achselhöhlen, als der Alte ihn entdeckte. Tom hatte sich nicht mehr gerührt. Stattdessen hatte er den Kopf nach hinten in den Schlamm gelegt und in die Luft gestarrt. Selbst wenn er nicht noch tiefer eingesunken wäre, hätte ihn die einlaufende Flut erwischt. Zwei Stunden noch, hatte er geschätzt und überlegt, ob der Schlamm wohl genauso schmeckte, wie er roch.
Nachdem ihn der alte Kanaljäger herausgezogen hatte, arbeiteten sie zusammen, bis der Alte starb. Abgesehen von den Ratten gefiel Tom diese Arbeit recht gut. Der Gestank in den Kanälen störte ihn nicht. Zuerst fand er ihn etwas unangenehm, aber bei weitem nicht so schlimm, wie die anderen erzählt hatten, wohl deshalb, weil er an den Fluss gewöhnt war. Der alte Kanaljäger hatte ihn ins Herz geschlossen und war freundlich gewesen. Er hatte zwar die Ausbeute nicht immer so gerecht geteilt, wie Tom es gefallen hätte, aber er brachte ihm alles über die Tunnel bei, bis Tom sie so gut kannte wie die Gassen von St. Giles. Der Alte schätzte, dass es circa anderthalbtausend Kilometer wären, wenn man sämtliche Abwasserkanäle Londons ablaufen würde, aber sie selbst beschränkten sich aufs Zentrum, wo die Ausbeute am größten war. In den offenen Kloaken am Stadtrand fand man bestenfalls Brunnenkresse. Auch der Süden war nicht so ergiebig. Unter den Zuckerbäckereien strömte Wasser heiß wie Dampf aus einem Kessel in die Kanäle, so dass man dort riskierte, bei lebendigem Leib gekocht zu werden. Unter den Gaswerken war es noch schlimmer, laut Gesetz durften dort die Kanäle überhaupt nicht betreten werden. Es hieß, unter der Gas-, Licht- und Koksgesellschaft könne man in Brand geraten, bevor man wusste, wie einem geschah. Tom war nie dort gewesen. Überhaupt hatte er nur ein einziges Mal gesehen, wie das Gas zuschlug, als jemand vor ihm eine Wolke davon abbekam, worauf sich alle auf den Boden warfen, um nicht auch erwischt zu werden. Er hatte das nie vergessen. Das lodernde Gas war wie ein Feuerwerk über sie hinweggezischt, eine prächtige Flamme oben am Gewölbe. Es hatte wunderschön ausgesehen.
Am liebsten waren Tom die Kanäle unter Mayfair und Belgravia. Es bereitete ihm eine gewisse Genugtuung, dass unter den feinsten Häusern der Stadt die Abwasserkanäle so schäbig waren wie nirgendwo sonst in London. Unter den schneeweißen, frisch verputzten Gebäuden am Belgrave Square bröckelte das Mauerwerk dermaßen, dass jeder Versuch,
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