Der Vermesser (German Edition)
die Kanäle zu reinigen, unweigerlich zu ihrem Einsturz geführt hätte. Neben zerbeulten Töpfen, Lumpen und Steingutscherben gab es dort immer irgendwelche Schätze zu finden. Der junge Tom konnte in Spalten schlüpfen, die für den Alten zu eng waren, und wenn sie zu einem Einstiegsgitter an der Straße kamen, legte er sich in den Schlamm und tastete den Boden der Kloake ab. Die große Reichweite seiner Arme hatte ihm seinen Spitznamen eingetragen. In der Regel fand er Münzen – Pennys, oft auch Shillings und halbe Kronen. Außerdem Metalllöffel, Tabakdosen, Nägel und Nadeln, Bleiklumpen, Murmeln und Knöpfe. Einmal sogar einen silbernen Krug, groß wie ein Kochtopf. Diesen Fund hatten sie in jener Nacht ordentlich gefeiert.
Es waren die ruhmreichen Zeiten gewesen, als die Kanaljägerei noch ein Gewerbe war, das der Vater an den Sohn vererbte. Damals waren die Abwasserkanäle zur Themse hin noch offen gewesen, so dass bei Ebbe jeder frech hineinspazieren konnte. Doch damit war schon seit Jahren Schluss. Inzwischen waren die Rundbogen-Ausgänge mit Backstein verstärkt und mit eisernen Toren versehen, die sich entsprechend den Gezeiten öffneten und schlossen. So sollte sichergestellt sein, dass das Abwasser zwar abfloss, aber niemand hineinkam. Für einige Kanaljäger war es das Aus. Die Tore waren tückisch, und einen anderen Weg ins Innere kannten sie nicht. Natürlich gab es Burschen, die sich einen Spaß daraus machten, sich an die Tore zu hängen, wenn das Wasser sie hoch genug gespült hatte, um hindurchzuschlüpfen, aber das Wasser schoss so schnell dahin, dass es einem die Beine wegzog. Tom hielt nichts von dieser Methode. Es hatte immer andere, sicherere Einstiegsstellen gegeben, wobei er es nicht eilig hatte, den anderen davon zu erzählen. Vor langer Zeit hatte ihm der Alte seine geheime Karte der Schächte und Gullys gezeigt, von denen manche gelegentlich von den Ausspülern benutzt wurden und andere so alt und abgelegen waren, dass wahrscheinlich niemand außer ihm und Joe überhaupt von ihrer Existenz wusste. Die meisten konnte man nur nach Einbruch der Dunkelheit benutzen. Es hätte Verdacht erregt, wenn einen jemand beim Einsteigen gesehen hätte. Sie hatten sie jedenfalls schon benutzt, noch bevor am Themseufer die Tore angebracht wurden. Es ging darum, dass man in den acht, neun Stunden, die einem die Gezeiten ließen, möglichst weit kam, und es hatte keinen Sinn, immer vom Fluss aus zu beginnen, nicht, wenn man mehr wollte als anderer Leute Ausscheidungen. Außerdem gab es Tage, an denen man trotz allem vom Regen überrascht wurde. Dann musste man in der Lage sein, möglichst schnell wieder herauszukommen.
Neuerdings wurden weitere Gitter und Schächte zum Einsteigen eingebaut. Manche dienten zur Entlüftung, andere als eisenvergitterter Rauchabzug, versehen mit ins Mauerwerk eingelassenen Stiften, die man als Leiter benutzen konnte. Normalerweise waren sie zwar abgesperrt, aber man bekam sie auf, wenn man wusste, wie. Auch vergaßen die Ausspüler manchmal, sie wieder zu verriegeln, oder vielleicht machten sie es sich einfach, weil sie jetzt viel öfter nach unten klettern mussten als früher. In manche Abwasserkanäle stiegen die Ausspüler zwei- bis dreimal im Monat und spülten Wasser durch die Tunnel, um sie von Dreck und Schlamm zu säubern. Joe meinte, sie wollten damit nur rechtschaffene Männer in den Ruin treiben, weil dadurch die im Schlamm verborgenen Schätze geradewegs ins Meer befördert wurden, aber Tom wusste, dass es wegen der Cholera war. Die Cholera war durch die Stadt gezogen wie Faulgas. Das Fieber überfiel einen so plötzlich, dass manch einer, der sich beim Frühstück noch prächtig gefühlt hatte, zur Mittagszeit schon mausetot war. Bald hatte der Platz nicht mehr gereicht, um die Leichen zu begraben, und es gab auch nicht mehr genügend Totengräber, so viele Leute kamen um. Manchmal sah man Haufen von Leichen, die Augen aufgerissen, auf Karren vor den Friedhöfen aufeinander geschichtet, wo sie warten mussten, bis die Reihe an ihnen war. Damals hatten die Ärzte der Regierung erklärt, es sei der Gestank aus den Kanälen, der die Leute umbringe, und so wurden umgehend die neuen Maßnahmen beschlossen. Von da an spülte man die Kanäle öfter aus. Wenn die Leute über ein Kanalgitter liefen oder an den Stellen vorbeikamen, wo die Kanäle in die Themse mündeten, hielten sie die Luft an. Aber sie starben trotzdem. Zuweilen ganze Familien, mit Kind und Kegel, so
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