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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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ihn herum einprägen.
    Charlotte sah es als ihre Aufgabe an, die lange Fahrt nach Holyhead so angenehm wie möglich zu gestalten, doch wollte sie zugleich von ihm erfahren, was genau er von ihr erwartete.
    Sie nahm an, dass sie ziemlich steif wirkte, wie sie so mit im Schoß gefalteten Händen in vorbildlich aufrechter Haltung auf der ziemlich unbequemen Bank im Abteil saß. Zwar gefiel
ihr das gouvernantenhafte Bild ganz und gar nicht, das sie damit abgab, doch jetzt, da sie, jeder aus seinen eigenen Gründen, zu diesem gemeinsamen Abenteuer aufgebrochen waren, musste sie unbedingt darauf achten, keinen Fehler zu begehen, der sich nicht wiedergutmachen ließ, vor allem bezüglich ihrer Gefühle. Sie konnte Victor Narraway gut leiden, er war hochintelligent, alles andere als ein Massenmensch und konnte gelegentlich sehr amüsant sein. Aber sie kannte nur einen Teil von ihm, nämlich die berufliche Seite, die auch Pitt bekannt war, und überdies weit besser, als sie sie je kennenlernen würde. Vielleicht machte diese Seite den Mann in erster Linie aus – das jedenfalls hatte sie Lady Vespasias Andeutungen entnommen. Doch selbstverständlich war ihr klar, dass da noch mehr sein musste, nämlich der Privatmann Narraway. Sicher waren irgendwo hinter seinem Pragmatismus Träume verborgen; sie hatte seinen Augen angesehen, dass er deren Verlust betrauerte.
    »Danke für Ihre Ausführungen über die frühe irische Geschichte«, begann sie und kam sich dabei unbeholfen und ungeschickt vor. »Aber ich muss mehr über die Angelegenheit wissen, der wir nachspüren wollen, weil ich sonst bestimmt Wichtiges nicht erkenne, wenn ich etwas darüber höre. Ich kann mir unmöglich alles merken, was gesagt wird, um es Ihnen dann Wort für Wort zu berichten.«
    »Selbstverständlich nicht.« Ganz offensichtlich war er bemüht, ein ernstes Gesicht zu machen, was ihm aber nicht ganz gelang. »Ich werde Ihnen so viel sagen, wie ich kann. Sie werden aber verstehen, dass es da nach wie vor den einen oder anderen heiklen Punkt gibt … ich meine, politisch gesehen.«
    Sie sah ihn aufmerksam an und begriff, dass das, worauf er damit anspielte, auch für ihn persönlich schmerzlich war. Er erkannte, dass sie das gemerkt hatte, und lächelte. Der Spott, der darin lag, galt in erster Linie ihm selbst.

    »Vielleicht könnten Sie mir etwas über die politische Lage im Lande sagen«, regte sie an. »Zumindest, soweit sie allgemein bekannt ist – jedenfalls den Menschen, die sich dafür interessieren«, fügte sie hinzu. Jetzt war die Reihe an ihr, sich ein wenig selbst zu verspotten. »Zu meiner Schande muss ich sagen, dass ich mich zu jener Zeit mehr mit Kleidern und Gesellschaftsklatsch als mit Politik beschäftigt habe.« Damals war sie seiner Schätzung nach um die fünfzehn Jahre alt gewesen. »Und natürlich mit der Frage, wen ich wohl eines Tages heiraten würde.«
    »Verständlich. Ein Thema, das die meisten von uns von Zeit zu Zeit beschäftigt.« Er nickte. »Es genügt, wenn Sie über den politischen Hintergrund wissen, dass die Iren, wie bereits seit langer Zeit, unüberhörbar nach Selbstbestimmung verlangen. Verschiedene britische Premierminister haben schon früher versucht, sie im Unterhaus durchzusetzen, was einigen von ihnen großen Ärger bereitet und andere das Amt gekostet hat. Hier geht es um die Zeit des aufsehenerregenden Aufstiegs von Charles Stewart Parnell. Dieser Mann hat sich im Jahre 1877 an die Spitze der Partei gestellt, die sich für die Selbstbestimmung der Iren einsetzte.«
    »Den Namen habe ich schon einmal gehört.«
    »Kann ich mir denken, wahrscheinlich wegen seines skandalösen Verhältnisses zu Katie O’Shea, das ihm letzten Endes politisch gesehen den Hals gebrochen hat. Aber das war sehr viel später.«
    »Bestand zwischen Parnell und den Ereignissen um die Familie O’Neil irgendein Zusammenhang?«
    »In keiner Weise, jedenfalls nicht unmittelbar. Aber die Hoffnung, die das Auftreten eines neuen leidenschaftlichen Anführers erweckt, lag in der Luft. Endlich, so nahm man allgemein an, würde Irland unabhängig, und das machte alles anders als zuvor.« Er richtete den Blick aus dem Fenster, durch
das die Sonne hereinfiel, auf die vorüberziehende Landschaft, doch ihr war klar, dass er etwas gänzlich anderes sah, was sich in einer anderen Zeit abspielte.
    »Und das mussten wir verhindern?«, fragte sie.
    »Ich denke, dass es darauf hinauslief, ja. Uns erschien es notwendig, um den Frieden zu bewahren.

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