Der Verräter von Westminster
essen will, muss einen langen Löffel haben. Das gilt sinngemäß auch dort: Um mit den Iren zurechtzukommen, muss man all seine geistigen Kräfte zusammennehmen. Die bringen es fertig und seifen jeden ein, der nicht aufpasst.«
»Ich werde nicht vergessen, warum ich dort bin«, versprach Charlotte.
»Und auch nicht, dass Victor Irland sehr gut kennt und die Iren ihn kennen?«, fügte Lady Vespasia hinzu. »Du solltest weder seine Intelligenz noch seine Verletzlichkeit unterschätzen. Übrigens hast du mir noch gar nicht gesagt, auf welche Weise du das Unternehmen so durchführen willst, dass sein guter Ruf nicht noch mehr beschädigt und deiner nicht zugrunde gerichtet wird. Ich nehme jedenfalls nicht an, dass dich deine Angst und dein Widerwille gegen das ihm angetane Unrecht in dieser Hinsicht blind gemacht haben?« In ihrer Stimme lag keinerlei Kritik, sondern lediglich Sorge.
Charlotte spürte, wie ihr das Blut heiß ins Gesicht stieg. »Selbstverständlich habe ich daran gedacht. Eine Gesellschafterin kann ich nicht mitnehmen, denn ich habe keine, und ohnehin würde mir das Geld für ihre Reisekosten fehlen, sofern ich eine hätte. Ich werde mich als Mr Narraways Schwester ausgeben, genauer gesagt, als seine Halbschwester. Damit dürfte die Sache ja wohl hinreichend schicklich sein.«
Ein leichtes Lächeln umspielte Lady Vespasias Mundwinkel. »Dann solltest du aber besser aufhören, ihn als ›Mr Narraway‹ anzureden, und seinen Vornamen benutzen, wenn du kein Aufsehen erregen willst.« Sie zögerte. »Vielleicht tust du das ja bereits?«
Charlotte sah ihr in die silbergrauen Augen, ohne sich dazu zu äußern.
Früh am nächsten Morgen kam Narraway in einer Droschke. Als Charlotte die Tür öffnete, zögerte er nur einen winzigen Augenblick, fragte aber nicht, ob sie es sich anders überlegt habe. Vielleicht wollte er ihr keine Gelegenheit geben, in ihrem Entschluss wankend zu werden. Sein Gesicht war düster, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen, als habe er schon lange nicht mehr richtig geschlafen. Nachdem er den Droschkenkutscher aufgefordert hatte, ihr Gepäck aufzuladen,
fragte er: »Wollen Sie noch einmal hineingehen und sich verabschieden? Wir haben genug Zeit.«
»Nein, vielen Dank, das habe ich bereits getan«, gab sie zurück. »Außerdem sind mir lange Abschiede zuwider. Ich bin zum Aufbruch bereit.«
Er nickte und folgte ihr über den schmalen Weg, half ihr in die Droschke und ging dann hinten um diese herum, um ebenfalls darin Platz zu nehmen. Offensichtlich hatte er dem Kutscher das Fahrtziel schon genannt.
Charlotte hatte sich bereits entschieden, ihm nicht mitzuteilen, dass sie bei Lady Vespasia gewesen war; auch sagte sie kein Wort über Mrs Watermans Verdächtigungen. Das wäre nur peinlich gewesen, so, als sehe auch sie selbst in der Reise etwas, was über deren eigentlichen Zweck hinausging. Der bloße Gedanke ließ ihr die Röte ins Gesicht steigen.
»Vielleicht möchten Sie mir etwas über Dublin erzählen«, schlug sie vor. »Ich war noch nie dort, und mir ist bewusst, dass ich so gut wie nichts darüber weiß, außer, dass es sich um die Hauptstadt Irlands handelt.«
Aus irgendeinem Grund schien ihn das zu belustigen.
»Unterwegs wird genug Zeit dafür sein, denn obwohl wir den Schnellzug benutzen, haben wir nicht nur eine lange Fahrt bis zur Küste, sondern auch noch die mit der Fähre vor uns. Zum Glück ist die Wettervorhersage günstig. Ich hoffe nur, dass sie stimmt, denn wenn die Irische See rau ist, kann die Überfahrt außerordentlich unangenehm werden. Ich werde also unterwegs reichlich Gelegenheit haben, Ihnen alles zu sagen, was ich weiß, angefangen mit der Zeit von 7500 vor Christi Geburt bis heute.«
Es verblüffte sie zu hören, dass die Stadt so alt sein sollte, doch dachte sie nicht daran, ihm zu zeigen, dass es ihm so leicht gelungen war, sie zu beeindrucken. So sagte sie lediglich: »Ach, tatsächlich? Und liegt das daran, dass unsere Reise
so lange dauern wird oder dass Sie weniger über die Geschichte Dublins wissen, als ich angenommen hatte?«
»Genau genommen gibt es zwischen der Zeit um 7500 und dem Auftauchen der Kelten dort im Jahre 700 vor Christi Geburt eine große Lücke«, gab er mit einem Lächeln zurück. »Danach ist ebenfalls nicht sonderlich viel passiert, bis ein gewisser Patricius im Jahre 432 nach Christi Geburt dorthin gelangt ist, Apostel und Patron der Iren, den sie gewöhnlich St. Patrick nennen.«
»Wir können also
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