Der Verräter von Westminster
acht Jahrtausende kommentarlos überspringen«, folgerte sie. »Danach gibt es aber doch sicherlich genauere Einzelheiten?«
»Wie wäre es mit der Errichtung der St. Patrick geweihten Kathedrale im Jahre 1192?«, schlug er vor. »Es sei denn, Sie wollen etwas über die Wikinger wissen – da müsste ich selbst erst nachlesen. Auf jeden Fall waren sie keine Iren und zählen deshalb nicht.«
»Sind Sie Ire, Mr Narraway?«, fragte sie plötzlich. Vielleicht war das aufdringlich von ihr, und solange er Pitts Vorgesetzter war, hätte sie eine solche Frage nie zu stellen gewagt, doch jetzt sprachen sie miteinander beinah von Gleich zu Gleich, und vielleicht konnte es für sie wichtig sein, es zu wissen. Mit seinen dunklen Augen, den dunklen Haaren und der Haut, die nicht annähernd so hell war die anderer Briten, konnte er ohne weiteres aus Irland stammen.
Er zuckte leicht zusammen. »Wie förmlich Sie sind – Sie klingen fast wie Ihre Mutter. Ich bin ebenso englisch wie Sie, wenn man von einer irischen Urgroßmutter absieht. Warum fragen Sie?«
»Weil Sie sich in der Geschichte des Landes so gut auskennen«, gab sie zurück. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn ihre Frage hatte mehr damit zu tun, dass sie feststellen wollte, wem seine Loyalität galt. Außerdem konnte das womöglich
etwas über sein Wesen aussagen und unter Umständen sogar zur Erhellung dessen beitragen, was vor zwanzig Jahren im Fall O’Neil geschehen war.
»Solches Wissen gehört zu meinen Aufgaben«, sagte er ruhig. »Besser gesagt, es gehörte dazu. Möchten Sie etwas über die Fehde hören, die den König von Leinster veranlasste, Heinrich II. von England zu bitten, er möge ein Heer zu seiner Unterstützung entsenden?«
»Ist das interessant?«
»An der Spitze dieses Heeres stand der als Strongbow bekannte Richard de Clare. Er hat sich mit der Erbtochter des irischen Provinzialkönigs vermählt und wurde im Jahre 1171 selbst König, womit die Anglo-Normannen die Herrschaft über Irland in die Hand bekamen. Im Jahre 1205 haben sie damit begonnen, die Burg von Dublin zu bauen. ›Silken‹ Thomas ist im Jahre 1534 an die Spitze einer Revolte gegen Heinrich VIII. getreten und in diesem Kampf unterlegen. Sehen Sie allmählich ein Muster?«
»Selbstverständlich. Verbrennen die Iren also heutzutage alljährlich eine Strohpuppe, die den König von Leinster darstellen soll?«
Er lachte kurz und scharf. »Davon habe ich nie etwas gesehen, aber der Gedanke ist nicht schlecht. So, wir sind am Bahnhof. Ich werde mich um einen Gepäckträger kümmern. Wir unterhalten uns im Zug weiter.«
Noch während er das sagte, hielt die Droschke an, und Narraway sprang leichtfüßig hinaus. Mit seiner gebieterischen Haltung erregte er binnen Sekunden die Aufmerksamkeit eines Gepäckträgers, der das Gepäck auf seinen Karren lud. Er entlohnte den Droschkenkutscher und trat dann mit Charlotte in die riesige Halle des Bahnhofs von Paddington, von wo aus die Züge der Gesellschaft Great Western Rail nach Holyhead in Nordwales fuhren. Das Dach, das sich mit seinen
großen Bögen gleich einer halbfertigen Kathedrale über ihnen spannte, war so hoch, dass die den Bahnsteigen entgegeneilenden Menschen winzig wirkten. Eine gewisse Ruhelosigkeit und Erregung lagen in der von Dampf, Ruß, Kohlenstaub und Lärm erfüllten Luft.
Narraway nahm Charlottes Arm. Es war ein sonderbares Gefühl, und sie wollte sich im ersten Augenblick dagegen sträuben, doch dann fiel ihr ein, wie töricht das wäre. Falls sie sich in der ungeheuren Menschenmenge aus den Augen verlören, würden sie einander möglicherweise erst nach Abfahrt des Zuges wieder finden. Er hatte die Fahrkarten und wusste sicherlich, zu welchem Bahnsteig sie mussten.
Sie kamen an Gruppen von Menschen vorüber, die Wiedersehen feierten oder Abschied voneinander nahmen. Immer wieder übertönten zischender Dampf und sich mit lautem Knall schließende Waggontüren alles andere. Auf den schrillen Pfiff eines Schaffners hin setzte sich eine der riesigen Lokomotiven in Bewegung und verließ den Bahnhof.
Erst nachdem Narraway und Charlotte ihr Abteil gefunden und darin Platz genommen hatten, setzten sie ihr Gespräch fort. Mit seinem höflichen und sogar zuvorkommenden Verhalten ihr gegenüber konnte er sie nicht über seine innere Anspannung hinwegtäuschen. So gut wie nie hielt er seine Hände ruhig, und immer wieder richtete er seine Blicke hierhin und dorthin, als wolle er sich die Gesichter der Menschen um
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