Der Verrat
widersprechen?«
Sie versetzte der Kurtisane eine schallende Ohrfeige. Das Mädchen schrie vor Schmerz auf. Momoko schleuderte die Decke nach ihr. »Den Preis für die Decke ziehe ich dir von dem Geld ab, das du letzte Nacht verdient hast. So wirst du es niemals schaffen, dir die Freiheit zu erkaufen! Wenn es mit dir so weitergeht, wirst du Yoshiwara erst verlassen, wenn du so alt und hässlich bist, dass man dich von allein hinauswirft! Und jetzt verschwinde!«
Schluchzend eilte die Kurtisane zur Tür hinaus und huschte an Sano vorbei. Die yarite drehte sich um und erblickte ihn. Der Zorn, der sich auf ihrem Gesicht spiegelte, wich einem Ausdruck des Erstaunens, der sich rasch in Argwohn verwandelte. »Oh! Seid Ihr der sōsakan-sama des Shōgun?«, fragte sie ein wenig atemlos. Als Sano nickte, verbeugte sich die yarite . »Euer Kommen ehrt mich, Herr. Euer Gefolgsmann sagte mir bereits, dass Ihr mich zu sprechen wünscht. Womit kann ich Euch dienen?«
Sano sah, dass Momoko einst eine sehr schöne Frau gewesen war, doch im Laufe von vielleicht vierzig Jahren waren ihr Gesicht und ihr Körper hager und knochig geworden. Ihr Lächeln, bei dem sie ihre schiefen Zähne zeigte, konnte ihre Furcht vor Sano nicht verbergen. Offenbar wusste Momoko bereits, weshalb er sie sprechen wollte – und wie gefährlich ihre Situation war.
»Ich ermittle im Mord an Fürst Mitsuyoshi«, sagte Sano, »und muss Euch ein paar Fragen stellen.«
»Gewiss, Herr. Ich werde mein Bestes tun, Euch zu helfen.« Momoko kam mit kleinen, zierlichen Schritten zu Sano, doch ihr aufgesetztes Lächeln verriet ihre Furcht. »Sollen wir ins Gesellschaftszimmer gehen, Herr? Darf ich Euch eine Schale Sake anbieten? Oder kann ich sonst etwas für Euch tun?«
Sano fragte sich, ob Momokos Redseligkeit – wie auch der Angriff auf die junge Kurtisane – auf ihre Anspannung zurückzuführen war. Oder war die yarite eine grausame Mörderin, die durch Schwatzhaftigkeit ihre Furcht zu überdecken versuchte? Sano, der nicht vorschnell urteilen wollte, schob diese Gedanken vorerst beiseite, als er Momoko ins Gesellschaftszimmer begleitete, wo sie ihn zum Ehrenplatz vor dem Alkoven führte. Dann eilte sie geschäftig umher, holte Geschirr und die Karaffe mit dem Sake, wärmte sie am Holzkohleofen und schenkte Sano eine Schale ein.
»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass Fürst Mitsuyoshi ermordet wurde!«, sagte sie. »Es ist schrecklich! Er war ein junger und freundlicher Herr. Und nun musste er einen so furchtbaren Tod erleiden!« Momoko redete immer schneller, wobei sie abwechselnd lächelte, sich nervös auf die Unterlippe biss und Sano kokette Blicke zuwarf.
»Erzählt mir, was Ihr gestern Abend getan habt«, sagte Sano.
»Was ich getan habe?« Momoko erstarrte. Grelles Entsetzen flackerte in ihren Augen, als hätte Sano sie soeben des Mordes beschuldigt.
»Ich versuche zu ermitteln, was jeder Gast und jeder Bedienstete des ageya gestern getan hat, um mir ein Bild von den Ereignissen machen zu können, die zu dem Verbrechen geführt haben.« Sano fragte sich, ob Momokos Erschrecken den Schluss zuließ, dass sie tatsächlich schuldig war, oder ob es nur an ihrer Angst lag, Sano könne sie für die Täterin halten, obwohl sie den Mord gar nicht begangen hatte.
»Oh.« Erleichterung spiegelte sich auf dem Gesicht der yarite , wich aber sofort wieder angespannter Wachsamkeit.
»Habt Ihr Kurtisane Wisterie als Anstandsdame hierher zum ageya Owariya begleitet?«, wollte Sano wissen. Als Momoko nickte, bat er sie: »Erzählt mir mehr darüber.«
Die yarite kniete vor Sano nieder und verschränkte die Hände im Schoß. »Kurz nach dem Abendessen sagte mir der Besitzer des Großen Miura – das Bordell, in dem ich wohne –, Fürst Mitsuyoshi wolle die Nacht mit Kurtisane Wisterie hier im Owariya verbringen.«
Sämtliche Geschäfte in Yoshiwara wurden nach strengen Regeln abgewickelt, auch wenn es um Kurtisanen ging. Deshalb konnte Sano sich denken, wie es in Wisteries Fall abgelaufen war: Fürst Mitsuyoshi war im ageya Owariya gewesen und hatte darum gebeten, die Nacht mit Wisterie verbringen zu dürfen. Daraufhin hatte der Besitzer des ageya Owariya einen Brief an den Besitzer des Großen Miura geschrieben und förmlich darum ersucht, dass Wisterie dem Wunsch des Fürsten nachkäme.
»Ich habe Wisterie beim Ankleiden geholfen«, sagte Momoko nun. »Dann habe ich sie beim Festzug zum Owariya begleitet, wo wir nach ungefähr einer Stunde
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