Der Verrat
eintrafen.«
Der festliche Zug einer tayu zu dem Treffen mit einem Freier war eine prunkvolle Zeremonie, bei der die Kurtisane von ihrer yarite und ungefähr zwanzig Bediensteten begleitet wurde. Dieser Festzug bewegte sich sehr langsam, sodass er einige Zeit unterwegs gewesen sein musste, auch wenn das Große Miura und das Owariya nur einige Querstraßen voneinander entfernt waren. Sano stand plötzlich lebhaft das Bild Wisteries bei diesem Festzug vor Augen. In einen Kimono von leuchtender Farbe gekleidet, ging sie an Männern vorüber, die sie bewundernd betrachteten; sie bewegte sich voller Anmut und mit zierlichen kleinen Schritten, wie man es von vornehmen Damen erwartete. Inzwischen musste Wisterie Mitte zwanzig sein, doch bestimmt war sie noch immer mädchenhaft zart, schlank und anmutig, mit großen schönen Augen, die ihrem aparten Gesicht einen exotischen Charme verliehen – so wie Sano sie in Erinnerung hatte.
»Was geschah dann?«, fragte er.
»Ich habe Wisterie ins Gesellschaftszimmer geführt, wo Fürst Mitsuyoshi sie bereits erwartet hatte«, sagte Momoko. »Dann habe ich den beiden Sake gebracht.«
Das Begrüßungsritual zwischen einer tayu und ihrem Kunden ähnelte einer Hochzeitszeremonie, bei der das Paar aus ein und derselben Schale trank, um seine Verbindung zu besiegeln. Sano stellte sich Wisterie vor, wie sie Fürst Mitsuyoshi gegenüberkniete, ohne etwas zu sagen oder irgendwelche Gefühle zu zeigen, so wie die Tradition es verlangte, und an der Trinkschale nippte, während Mitsuyoshi sie mit heißem Verlangen betrachtete.
Sano verscheuchte diese Gedanken und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die yarite . Sie hatte die Hände noch immer ineinander verschränkt, und ihre unruhigen Blicke huschten noch schneller umher als zuvor. »Es war das dritte Treffen der beiden, deshalb habe ich sie nach oben geführt«, sagte Momoko.
Sano nickte: Keine tayu schlief schon bei den ersten beiden Treffen mit einem neuen Kunden. Deshalb war davon auszugehen, dass Wisterie dem Fürsten vor der Mordnacht mindestens schon zweimal begegnet war. Sano stellte sich Momoko, Wisterie und Fürst Mitsuyoshi vor, wie sie die Treppe zum Schlafgemach hinaufstiegen, in dem Mitsuyoshi endlich bekommen sollte, was er begehrte. Sano versuchte, sich die Gesichter der drei vorzustellen – die erregte, erwartungsvolle Miene Mitsuyoshis, den zufriedenen Ausdruck Momokos und die ausdruckslose, zugleich aber wachsame Miene Wisteries. Hatte einer der drei zu diesem Zeitpunkt schon gewusst, dass die Begegnung tödlich enden würde?
»Ich habe Wisterie und den Fürsten ins Schlafgemach geführt«, fuhr Momoko fort. »Als meine Arbeit dann getan war, hat Wisterie mich hinausgeschickt, und Mitsuyoshi schloss die Tür.«
»War außer Wisterie, Fürst Mitsuyoshi und Euch selbst noch jemand zugegen?«, wollte Sano von Momoko wissen.
»Nein. Ich habe nur die beiden zu dem Gemach geführt. So ist es üblich.«
Und was in Yoshiwara üblich war, das war Gesetz.
»Dann bin ich wieder nach unten gegangen«, fuhr Momoko fort. »Ich musste auf die anderen Kurtisanen Acht geben, die mit den Gästen im Gesellschaftszimmer gefeiert haben.« Sie seufzte tief. »Manchmal sind die Mädchen eine Plage, das könnt Ihr mir glauben!«
Momokos Stimme wurde wieder schnell und aufgeregt und verriet, dass sie nicht darüber reden wollte, was geschehen war, nachdem sie Wisterie und Mitsuyoshi ins Schlafgemach geführt hatte. Doch genau darum ging es Sano. »Habt Ihr Kurtisane Wisterie später noch einmal gesehen, nachdem Ihr das Zimmer verlassen hattet?«, fragte er.
»Nein. Im Schlafgemach sah ich sie das letzte Mal.« Die yarite verschränkte die Finger so fest ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Habt Ihr eine Idee, wohin Wisterie gegangen sein könnte?«
»Nein. Und mir hätte sie es ganz bestimmt nicht gesagt.«
»Kennt Ihr jemanden, dem sie etwas erzählt haben könnte?«, fragte Sano.
Momoko biss sich auf die Unterlippe und dachte nach. »Mit den anderen Kurtisanen hat Wisterie kaum ein Wort gesprochen. Die meiste Zeit blieb sie für sich allein.« Ein Ausdruck der Verärgerung erschien auf Momokos Gesicht. »Sie spricht ja nicht einmal mit mir, nur wenn es sein muss. Und warum? Weil sie mich hasst! Diese Mädchen heutzutage haben keinen Respekt mehr vor älteren Leuten. Da habe ich mir so viel Mühe gegeben, Wisterie und die anderen Kurtisanen auf ihren Beruf vorzubereiten – und wie danken sie es mir? Indem sie
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