Der verschlossene Gedanke
beginnen die Gedanken in seinem Kopf um Aufmerksamkeit zu buhlen. Ein vom kalten Ostseewasser umspülter Fuß. Ein nass gewordenes Hosenbein. Blondes Haar, das unter der Kapuze eines Pullovers hervorlugt. Pullover? Hatte er sich nicht für ein Kleid entschieden? Nein. Kein Kleid. Zu wenig Beschreibungsspielraum. Wann ist der richtige Zeitpunkt für die erste Begegnung zwischen Michelle und Boris? Schemenhaft erkennt er ihn bereits in der Ferne des Meeres. Ein Bootsunfall. Michelles Blick wandert in seine Richtung.
Plötzlich schieben sich Bilder einer anderen Szene vor das Wasser. Der Feldweg. Eine dunkelhaarige Frau, die davonläuft. Sie läuft. Sie läuft weiter. Schneller. Ich muss sie aufhalten. Sie darf niemandem davon erzählen.
Oskar schreckt auf. Was für eine seltsame Szene. Wie soll so etwas in seinen Roman passen? Thriller sind nicht sein Genre, Verfolgungen nicht sein Stil. Warum sollte jemand in seinem Buch eine Frau verfolgen, bei der es sich nicht um Michelle handelt? Und was sollte der Grund für diese Verfolgung sein? Warum landen seine Gedanken immer wieder am Rande des Maisfeldes, ungeachtet der Tatsache, dass seine Geschichte am Meer spielt? Ich muss sie aufhalten. Sie darf niemandem davon erzählen.
„ Alles in Ordnung?“ Lennard verliert das Interesse am Monolog.
„ Entschuldige“, sagt Oskar. „Ich war mit den Gedanken wohl gerade woanders.“
„ Der Roman?“
„ Ja. Der Roman.“
Lennard lächelt. „So sind sie, die Schriftsteller. Schreiben selbst dann, wenn sie nicht schreiben.“
Den Weg vom Café nach Hause legt er alleine zurück. Lennards Vorschlag, sich ein Taxi zu teilen, hat er abgelehnt. Er braucht jetzt frische Luft, um den Kopf frei zu kriegen. Frei von überflüssigen Gedanken. Frei von Szenen, die die Struktur des Romans vernebeln.
Sein Weg führt ihn durch den Mittagstrubel der Stadt. Vorbei an Restaurants und Bäckereien, Boutiquen und Musikläden. Gesichter kommen ihm entgegen. Ein Lächeln hier und da. Manche Blicke treffen ihn.
Oskar bleibt stehen. Da ist er wieder. Der Feldweg in seinem Kopf. Was um Himmelswollen soll das? Woher kommen diese Gedanken und warum tauchen sie immer wieder auf? Fängt er an, verrückt zu werden?
Aus den Gedanken werden Bilder. Ein Frauenrücken, der sich unter hetzenden Schritten entfernt. Sie dreht sich um. Ihre Augen sind dunkel wie ihr Haar. Erfüllt von Angst. Panik. Roter Mohn am Weg. Ein Hochsitz am Rande des Blickwinkels. Staub unter Füßen. Sie läuft weiter. Schneller. Ich muss sie aufhalten. Sie darf niemandem davon erzählen.
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Der Blick in den Spiegel verheißt nichts Gutes. Krähenfüße haben sich zum gemeinschaftlichen Verbleib an seinen Augen verabredet. Die allgemeingültige Meinung, dass Männer mit zunehmendem Alter attraktiver werden, während Frauen bereits ab Dreißig zu Botox greifen, kann er nicht unterschreiben. Vielmehr ist es die Tatsache, dass Falten besser zum von Natur aus eher borstigen Gesicht eines Mannes passen als zur weichen Haut einer Frau. Wirklich schön sind Falten aber bei niemandem.
„ Wie oft soll ich es dir noch sagen, Oskar? Falten erzählen dein Leben. Und mit 48 hast du nun mal schon ein bisschen Leben hinter dir.“ Gaby stellt den Wäschekorb auf das Bett. Sie scheint wie immer seine Gedanken zu lesen.
Er wendet sich nicht vom Spiegel ab. „Mag ja sein, dass sie mein Leben erzählen. Aber mir persönlich reicht die Tatsache, dass mir der Personalausweis mein Alter verrät. Ich brauche keine Falten als Beweis.“
Sie beginnt, Socken aufzurollen. „Beweise. Wer braucht schon Beweise. Es zählt nicht, was wir brauchen, sondern wie wir mit dem, was wir bekommen, umgehen.“
„ Umgehen“, brummt Oskar leise.
„ Ich finde dich jedenfalls mindestens genauso attraktiv wie vor zwanzig Jahren.“ Sie zwinkert ihm zu, während er die Stirn mit seinen Fingerspitzen nach oben zieht.
„ Und jetzt hör auf, vor dem Spiegel herumzulungern. Du bist Autor und kein Model.“
Sie hat recht. Ihre positive Lebenseinstellung war einer von Oskars Gründen, sich damals in sie zu verlieben. Und der Grund, mit ihr gemeinsam zu akzeptieren, niemals eigene Kinder haben zu können.
„ Ich lungere nicht herum, ich versuche, mit meinem Buch voranzukommen.“
„ Und das tust du mal wieder, ohne dabei vor dem Bildschirm zu sitzen.“
„ Du weißt, dass ich die besten Kapitel im Kopf schreibe.“
Gaby lächelt. „Ich sage es dir nur ungern, aber ein Buch im Kopf
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