Der verschlossene Gedanke
kommen die Bilder? Aus der Vergangenheit? Sie ist tot. Ergeben die ohnehin verwirrenden Gedanken jetzt nicht noch viel weniger Sinn als vorher?
Wie schön sie ist. Ich muss sie spüren. Jetzt. Liebe. Begehren. Er kann es förmlich fühlen. Wessen Augen auch immer diese Frau betrachten, es sind Augen, die nur das Gute in ihr sehen. Wie passt dieser Blick zu dem Verfolger im Mais? Dem Verfolger, der scheinbar ein kaltblütiger Mörder war?
„ Lennard ist am Telefon.“ Gaby steht mit dem Handy in der Tür des Arbeitszimmers.
„ Beim besten Willen. Nicht jetzt.“
„ Er sagt, es ist wichtig.“
„ Das sagt er immer.“ Und wichtig ist es nie.
„ Er ruft dich zurück, Lennard.“ Sie legt auf und kommt ins Zimmer. „Warum habe ich ihn gerade abgewimmelt?“
„ Weil ich heute nicht die Nerven für einen drängelnden Lektor habe. Was nützt es ihm, ständig nach meinen Fortschritten zu fragen? Das Buch ist fertig, wenn es fertig ist. Und der Abgabetermin noch lange nicht erreicht.“
„ Sag das nicht mir, sag es ihm.“
„ Das habe ich. Und mehr als einmal. Die Erfahrung hat mir gezeigt, dass es am besten ist, es ihn von allein merken zu lassen. Ohne lange Erklärungen.“
„ Lennard ist nicht nur dein Lektor. Er ist auch dein Freund, Oskar.“
„ Und gerade deshalb will ich ihm meine derzeitige Laune ersparen.“
Ihr Lächeln ist wissend. „So so. Du möchtest sie ihm ersparen. Mir aber nicht.“
Oskar spielt mit dem Gedanken, es ihr zu erzählen. Alles. Angefangen von den seltsamen Bildern von der Flucht bis hin zu den Gedanken, die ihn plagen. Gedanken, die einem anderen zu gehören scheinen. Jemandem aus dem Leben dieser Frau. Der Frau, die tot ist. Der Frau, deren leblose Hand er gehalten hat und die ihn noch immer heimsucht.
Gabys Lächeln lässt ihn seinen Plan verwerfen. Wenn diese Bilder ihm schon Angst machen, warum soll er sie dann zusätzlich damit belasten? Es gibt keine logische Erklärung für diese Gedanken. Jeder würde ihn zweifellos für verrückt halten. Und nichts wäre schlimmer, als diese Vermutung im Kopf seiner eigenen Frau zu wissen. Nein, er ist nicht verrückt. Und er wird es beweisen. Wenn auch nur sich selbst.
Sie gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. „Arbeite nicht so viel.“
„ Nur so viel, bis alle zufrieden sind“, sagt er. „Du, ich – und ganz besonders Lennard.“
________
Das Gebäude scheint beinahe unbewohnt. Lediglich zwei Etagen sind mit Gardinen an den Fenstern ausgestattet, der Rest ist leer. Die Suche nach dem Haus hat ihn fast eine halbe Stunde lang durch die Stadt geführt. Nein. Suche ist das falsche Wort. Er musste ihn nicht suchen, den Weg zum Haus. Er kannte ihn, fuhr ihn fast wie im Schlaf. Genau wie bei der Fahrt zum Feldweg war er einem inneren Drang gefolgt. Einem Drang, der ihn ohne Vorankündigung überkommen hatte.
Vor dem Haus angekommen verlässt es ihn. Das Band, das ihn hergeführt hat. Die Gewissheit, die sich langsam wieder von ihm entfernt. Er beginnt erneut, vom aktiven Teil zum Beobachter der Geschichte zu werden. Einer Geschichte, die er nicht kennt.
Eines der Fenster im Erdgeschoss öffnet sich. Eine ältere Frau schaut heraus. „Sie müssen hier falsch sein.“
„ Falsch?“ Oskar schiebt die Hände in seine Manteltaschen. „Woher wollen Sie das wissen?“
„ Hier wohnt niemand mehr. Und zu mir wollen Sie doch bestimmt nicht.“
Er schweigt. Die Wahrheit ist, dass er nicht weiß, zu wem er will. Er sucht Gewissheit. Klarheit. Aber ob er sie hier finden kann?
„ Das Mädel oben wohnt nicht mehr hier. Das haben Sie doch sicher mitbekommen.“
Oskar zuckt mit den Schultern. „Nein. Was ist mit ihr?“
„ Verschwunden. Seit über zwei Wochen. Ihr Freund hat gesagt, dass sie ihre Mutter in Aachen besucht. Wenn Sie mich fragen, alles Blödsinn. Sie hat ihn sitzen gelassen. So sieht’s aus.“ Sie wischt mit einem löchrigen Lappen über das Fensterbrett.
„ Und ihr Freund? Wohnt der auch hier?“
„ Nein. Der kam immer nur zu Besuch.“
Oskars Blick wandert zu den Fenstern der zweiten Etage. Muscheln, die an der Scheibe kleben. Der Rest eines Fischernetzes zur Gardine umfunktioniert.
„ Wissen Sie, wo ich ihn finde, ihren Freund?“
„ Den kenn ich nicht weiter. Hat ab und zu die Post geholt. War aber seitdem nicht mehr hier. Ich sag ja. Hier wohnt niemand mehr.“
Hier wohnt niemand mehr. Die Worte schweben über seinem Kopf. Nein. Tote wohnen nicht.
„ Sie können es sonst mal in
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