Der verschlossene Gedanke
Kapitel 1: Roter Mohn
Die Worte wollen nicht kommen. Nicht so schnell wie sonst. Nicht so unaufgefordert. Für gewöhnlich laufen sie ihm regelrecht nach. Er braucht nur eine Zeile, nur einen roten Faden und der Rest des Kapitels schreibt sich praktisch von allein. Heute scheint sich nichts schreiben zu wollen. Weder von allein noch von Oskar.
Seit mittlerweile zwei Stunden sucht er nach einem geeigneten Beruf für die Protagonistin seines neuen Romans. Der Verlag sitzt ihm im Nacken. Ganze zwei Monate bleiben ihm, um das Manuskript abzugeben. Und er hat nichts als ein Notizbuch mit konfusen Anhaltspunkten. Keine guten Voraussetzungen für einen Bestseller.
Die Idee, Michelle zur Anwältin zu machen, hat er wieder verworfen. Es hätte Recherche erfordert, um den Arbeitsalltag seiner Romanheldin glaubwürdig rüberzubringen. Und für Recherche fehlt ihm die Zeit. Im Grunde fehlt sie ihm für alles. Er hasst es, unter Druck zu schreiben. Selbst die Suche nach Vornamen wird zum Krampf, wenn er weiß, dass jemand auf das Ergebnis wartet. Oskar Holstein, der gefeierte Bestsellerautor. Im Moment fühlt er sich eher wie der bald vergessene.
Und überhaupt. Michelle. Lässt sich dieser Name vor die Rettung eines beinahe ertrinkenden Mannes schieben? Müsste es nicht eher eine Amanda, Beatrice oder Vera sein?
Die Gedanken an das nächtliche Ostseeufer werfen Bilder auf. Michelle barfuss in hochgekrempelten Jeans. Ein leichter Windzug um die nackten Fesseln. Den Pullover über ein ärmelloses Shirt gezogen. Nein. Michelle ist nicht der Typ für Jeans und Pullover. Sie trägt ein Kleid. Am Strand? Wer trägt ein Kleid beim abendlichen Spaziergang am Meer? Vielleicht kommt sie gerade von einer Party. Ja. Eine Party in einem der Strandhäuser. Hat sie reiche Freunde, die ein Haus am Wasser haben? Oder gehört es ihr vielleicht sogar selbst? Die Bilder gefallen ihm. Die gesichtslose Michelle bekommt Augen, einen Mund, eine Haarfarbe. Willensstark bahnt sie sich ihren Weg in seine Fantasie.
Ein einsamer Feldweg schiebt sich dazwischen. Roter Mohn am Wegesrand. Ein verlassener Hochsitz, der sich inmitten eines Maisfeldes in die Höhe streckt. Reiß dich zusammen, Oskar, und mach nicht schon wieder den zweiten Schritt vor dem ersten. Kümmere dich um die Strandszene.
Die Vorstellung von Michelle wird detaillierter. Zur Haarfarbe gesellt sich die Haarlänge, zur Augenfarbe die Augenform, zu den Lippen der Nachgeschmack von trockenem Weißwein. Ihre Schritte sind entspannt und zielstrebig zugleich, während sich das Strandhaus immer weiter von ihr entfernt. Der Strand. Endlos und mystisch. Regnet es? Nein, zu abgedroschen. Zu oft hat er es in seinen Romanen regnen lassen.
Schon wieder der Feldweg. Schnelle Schritte. Am Mais vorbei, der sie knapp überragt. Wo ist der Strand? Ist es Michelle, die vor etwas davonläuft? Nein. Michelle ist blond. Hier sind es dunkle Haare, die den Wind durchschneiden. Auf der Flucht. Die Beine sich fast überschlagend.
Oskar lässt den Kopf auf die Handflächen fallen. Zu viele Eindrücke. Zu viele Bilder, die in Worte gefasst werden wollen. Wieso gelingt es ihm heute so schlecht, sie zu sortieren? Das Überflüssige vom Wesentlichen zu unterscheiden? Und warum fällt es ihm so schwer, sich auf die Anfangsszene am Strand zu konzentrieren? Gerade die Leichtigkeit, mit der es seinen eigenen Ideen gelingt, ihn zu fesseln, hatte seine Arbeit bisher ausgezeichnet. Er war, wo er schrieb. Und nur dort. Keine verlassenen Feldwege, die sich in Strandszenen schieben.
Kapitel 2: Von ganz allein
„ Du solltest deinen Lesern ein Happy End gönnen.“ Lennard ist in seinen Ansichten eher weiblich gestrickt. Nicht die schlechteste Eigenschaft für einen Lektor im Verlagsbereich Romantik und Liebe.
„ Ein Liebesroman setzt nicht automatisch auch ein Happy End voraus“, rechtfertigt Oskar sein Prinzip der dramatischen Romanzen.
„ Dass es das nicht bedeuten muss, wissen wir aus deinen bisherigen Romanen. Jetzt darf es zur Abwechslung gerne mal ein schönes Ende geben. Eines, das man sich nicht schön denken muss, sondern das von jedem Blickwinkel aus betrachtet schön ist. Von ganz allein.“
„ Von ganz allein“, murmelt Oskar und nimmt einen Schluck von seinem Tee.
Lennards Ratschläge verschwimmen zu ausdruckslosem Hintergrund. Noch bevor Oskar darüber nachdenkt, wie viel Ausdauer der Anstand erfordert, bis er das Café verlassen darf, um sich wieder seinem Roman widmen zu können,
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