Der verschlossene Gedanke
kann niemand verlegen. Du wirst es schon aufschreiben müssen.“
Er dreht sich zu ihr um. Ihr schwarzes Haar trägt sie seit wenigen Monaten kurz. Manchmal vermisst er es, mit seinen Fingern durch die langen Strähnen zu fahren.
„ Ich weiß, dass ich es aufschreiben muss. Und das werde ich. Im Moment ist alles nur einfach so, so verwirrend . Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Meine Gedanken scheinen nicht auf mich zu hören.“
„ Du bist überarbeitet, Oskar. Das ist alles.“
„ Der Abgabetermin ist in zwei Monaten.“
„ Ein Grund mehr, dich zu entspannen. Mach einen Spaziergang. Frische Luft wird dir gut tun.“
Oskar schaut aus dem Fenster. Es ist bereits dunkel. „Ich habe heute Mittag einen Spaziergang gemacht. Nach meinem Treffen mit Lennard.“
„ Der gute alte Lennard. Hat er dich wieder mit seinen Happy End-Illusionen belästigt?“
„ Bei Lennard muss alles ein Happy End haben. Dabei ist das größte Happy End doch schon allein die Tatsache, dass ein Buch endlich fertig ist.“
„ Vielleicht sieht er das anders.“
Oskar nickt. „Ja, das tut er. Zum Glück konnten die anderen drei Romane den Verlag auch ohne schnulziges Ende überzeugen.“
Sie legt eines seiner gewaschenen Unterhemden zur Seite und kommt näher. „Auch dieser Roman wird sie überzeugen. Und was noch viel wichtiger ist: Er wird deine Leser überzeugen.“
„ Das hoffe ich.“ Er streichelt über ihre Schulter. „Das hoffe ich wirklich.“
________
Die ersten Zeilen. Sie sind schöner, als er erwartet hatte. Machen neugierig. Neugierig auf Michelle. Neugierig auf ihre Gründe, nachts allein am Strand zu spazieren. Er betrachtet die Worte auf dem Bildschirm.
Ihre Füße schienen den Boden kaum zu berühren, während sie sich vom Haus entfernte und auf den Strand zusteuerte. Mit einer Flasche Wasser in der einen, den Schuhen in der anderen Hand ließ sie das Ufer langsam hinter sich. Die blonden Strähnen hatte sie locker zusammen gebunden, die Kapuze ihres Pullovers straff über den Kopf gezogen.
Michelle nimmt Konturen an. Die Ahnung, die Oskar bisher von ihr hatte, wird zur konkreten Vorstellung. Er ist von Minute zu Minute überzeugter davon, nicht nur die Anfangsszene, sondern die gesamte Geschichte am Meer anzusiedeln. Das Strandhaus. Ein idealer Handlungsort.
In den idealen Handlungsort drängen sich plötzlich Bilder, die fremd für eine Strandszene sind. Der Feldweg. Fliehende Schritte, die er nun beinahe hören kann. Keuchender Atem. Sie läuft. Das dunkle Haar. Der Mohn. Das Fremde fängt an, beängstigend vertraut zu werden. Ich muss sie aufhalten. Sie darf niemandem davon erzählen.
„ Jetzt reicht es aber!“, brüllt er, ohne zu wissen zu wem und springt vom Schreibtisch auf. Doch die Bilder lassen ihn nicht los. Noch länger als die vorherigen Male spukt die fliehende Frau in seinem Kopf herum. Ihre Angst. Ihr Atem. Er beginnt ihre Flucht regelrecht zu spüren, ein Teil davon zu sein. Doch viel mehr als ihre Flucht sind es die Gedanken des Verfolgers, die ihn heimsuchen. Ich muss sie aufhalten. Sie darf niemandem davon erzählen. Was ist es, das sie niemandem erzählen darf? Wohin läuft sie?
Dies ist mehr als Fantasie. Seine Fantasie hat für gewöhnlich Ursprünge. Ursprünge, die sich in ihm selbst finden. Aber diese Gedanken sind fremd. Vollkommen untypisch für ihn.
Oskar steht auf. Er kennt den Feldweg. Er weiß nicht woher und seit wann. In diesem Moment, in diesem einen Moment kennt er ihn. Und er muss dorthin. Jetzt.
Sein Wagen fährt die Strecke fast von allein. Jede Ampel, jede Kreuzung, jede Straße auf der Fahrt durch die Stadt, aus der Stadt heraus, durch abgelegene Vororte, die er wie automatisch hinter sich lässt, erscheint ihm wie ein Film, den er aus der hintersten Reihe betrachtet. Er hat nicht den blassesten Schimmer und weiß trotzdem genau, was zu tun ist. Das Maisfeld. Der Weg. Der Hochsitz in der Mitte des Feldes.
Er lässt den Wagen am Rande des Weges stehen, den Schlüssel im Zündschloss, ohne die Tür abzuschließen. Seine Schritte sind zielstrebig, als er auf den Hochsitz zusteuert. In seinem Kopf scheint nur noch Platz für diesen einen Gedanken. Er muss sie finden. Die Zeit wird knapp.
Sein Handy holt ihn in die Realität zurück. Ein fast dröhnender Klingelton scheint ihn regelrecht zu wecken.
Gaby ruft an.
„ Ja? … nein… ich… ich brauchte mal frische Luft, bin draußen….“
Er sucht nach Worten.
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