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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Rouzé
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höchstens die Gelehrten entzückt, muß man sich dann einen langen Vortrag über Architektur anhören …“
    „Ja, aber was willst du machen?“ fragte Raymond achselzuckend. „Wenn ihr keine Lust zu der Führung habt, hättet ihr es eher sagen müssen.“
    „Reg dich nicht auf!“ sagte Suzanne. „Wir haben es uns eben erst jetzt überlegt. Können wir denn nicht allein losgehen?“
    „Das ist es ja! Man darf nicht! Es gibt nur einen einzigen vorgeschriebenen Weg, immer hinter dem Führer her. Sonst könnte es passieren, daß die Besucher sich verlaufen und an verbotene Plätze geraten.“
    „Gibt es verbotene Plätze? Warum denn?“
    „Ich weiß auch nicht“, gestand Raymond.
    „Aber ich weiß es“, sagte Pierre. „Ich war einmal hier mit meinem Vater und einem Archäologen, der auf dem Mont Saint-Michel arbeitet. Da sind wir einen ganzen Tag lang herumgeführt worden. Ihr habt keine Ahnung, wie schwer es ist, sich hier zurechtzufinden. Es gibt ja mehrere übereinandergelagerte Bauwerke, die zu ganz verschiedenen Zeiten auf dem Felsen entstanden sind. Die große Turmspitze oben mit dem Standbild des heiligen Michael ist noch ziemlich neu. Als mein Vater ein kleiner Junge war und zum erstenmal herkam, existierte sie noch nicht. Das Kloster stammt aus dem 13. Jahrhundert, die große Kirche aus dem 11., und tief darunter hat man die Reste der alten Abtei gefunden, die vor tausend Jahren gebaut worden ist …“
    „Du machst es genauso interessant wie der Fremdenführer“, neckte Suzanne.
    Pierre ärgerte sich nicht.
    „Ich beantworte nur Ihre Fragen, mein Fräulein! — In diesem Über- und Nebeneinander von Gebäuden ist ein Teil so wiederhergestellt worden, daß Besucher ihn ohne Gefahr betreten können. Und dann gibt es eben den anderen, mit eingestürzten Treppen und tiefen Kerkern, in denen die Mönche ihre Gefangenen einschlossen, mit Sälen, die man nur über eine Leiter betreten kann, und Gängen, in denen die Fliesen nachgeben, sobald man den Fuß darauf setzt. Einmal ist ein Stein aus einer Mauer gebröckelt, und dadurch hat man entdeckt, daß auf der anderen Seite ein unterirdischer Saal lag, der seit zehn Jahrhunderten zugemauert war und von dem niemand etwas wußte …“
    „Ich habe eine Idee!“ sagte Suzanne plötzlich.
    Sie winkte die Jungen näher heran und begann, mit halblauter Stimme auf sie einzureden.
    „Großartig!“ rief Jacques.
    „Herrlich!“ fand auch Jean.
    „Aber es ist gefährlich!“ wandte Pierre ein.
    „Wir müssen uns eben vorsehen“, sagte Raymond abschließend. „Ich meine, wir sollten es versuchen. Die Gelegenheit kommt so bald nicht wieder.“
    Eine gebieterische Stimme unterbrach ihre Beratung.
    „Meine Damen und Herren, die Führung beginnt. Wir gehen zuerst, meine Damen und Herren, die innere ,Große Treppe‘ hinauf. Sie führt uns über genau neunzig Stufen zur Plattform der Kirche …“

    Bei der Zahl neunzig wurde in der Gruppe ein Stöhnen laut. Es kam von der Dame mit den beiden Kindern. Dann setzte sich die Gruppe hinter dem Führer her in Bewegung.
    Nach beendetem Aufstieg erklang die eintönige Stimme von neuem:
    „Der Bau dieser Abteikirche wurde im Jahre 1022 begonnen und im Jahre 1135 beendet. Sie sehen hier das Kirchenschiff im frühromanischen Stil …“
    Unbemerkt waren die fünf Meerkatzen etwas zurückgeblieben und standen jetzt vor einer Seitenkapelle, deren Basreliefs sie außerordentlich zu interessieren schienen. Sie konnten sich einfach nicht losreißen … Währenddessen erklärte der Führer immer weiter und versammelte seine Schäflein vor einem Altar aus rosenrotem Granit. Auf ein stummes Zeichen von Pierre, der als Kenner der Örtlichkeit die Leitung übernommen hatte, machten die Meerkatzen eine schnelle Rückzugsbewegung, die sie den Blicken der Touristen entzog. Der Führer setzte seine Litanei fort. Seine Stimme wurde schwächer und entfernte sich mit dem Getrappel der Besucher. Niemand hatte bemerkt, daß die Herde sich um einen Teil ihres Bestandes verringert hatte.
    „Das ist der richtige Augenblick!“ flüsterte Pierre. „Wir müssen schnell machen, damit wir nicht der nächsten Runde in die Arme laufen. Wenn großer Andrang ist, kommen die Gruppen ziemlich rasch hintereinander.“
    Sie schlichen wie die Verbrecher dicht an den Mauern entlang, ein ganzes Stück des Weges zurück, den sie gekommen waren. Zu ihrem Glück trugen sie Schuhe mit Kreppsohlen; sonst hätte das Geräusch ihrer Schritte unter den

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