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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Rouzé
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Lampe auf den Boden; Suzanne bückte sich, tauchte einen Finger in das Wasser und führte ihn an die Lippen. „Es schmeckt salzig!“
    „Meerwasser“, sagte Raymond. „Weiter nicht verwunderlich. Wir sind ja ganz schön tief hinuntergeklettert. Jetzt sind wir wahrscheinlich auf gleicher Höhe mit dem Strand, und irgendwo wird ein bißchen Wasser eingedrungen sein.“
    „Seht doch bloß!“ rief Jean. „Da an der Wand sind Tiere!“
    Raymond beleuchtete die Felsmauer. Bleifarbene Asseln flohen, durch das Licht erschreckt, mit flinken kleinen Beinen in die Steinspalten.
    „Diese Sorte Insekten mag ich gar nicht“, sagte Suzanne. „Sie sind mir eklig.“
    „Asseln sind keine Insekten“, bemerkte Pierre, „sondern Schaltiere.“
    „Schaltiere? Wie die Hummern?“
    „Wie Hummern und Krebse.“
    „Meinetwegen! Iß sie ruhig, wenn du Appetit darauf hast! Ich überlasse sie dir gern.“
    Sie lachten alle bei der Vorstellung. Aber wenige Schritte weiter machten sie eine neue erstaunliche Entdeckung. Der Gang war bis zur Hälfte von einer großen Lache überschwemmt. Sie erinnerte an die kleinen Seen, die zur Zeit der Ebbe auf dem Strand Zurückbleiben und in denen die Sonne tausendfältiges Leben erweckt. Wenn auch kein Lichtstrahl je dieses unterirdische Gewässer treffen konnte, so schien es doch nicht tot: ein Netz von bleichen farblosen Algen und Gräsern schwamm auf seiner Oberfläche. Während sie sich neugierig über das Wasser beugten, glitt etwas Graues, Längliches langsam zwischen den Algen hindurch und verharrte unbeweglich nahe dem Rande.
    „Ein Fisch!“ rief Jean.
    Bei dem Laut seiner Stimme verschwand das Tier mit einem Schwanzschlag.
    „Das gäbe womöglich einen guten Fang!“ sagte Jacques. „Schade, daß wir kein Netz mitgenommen haben!“
    „Man muß sich zu helfen wissen“, sagte Raymond.
    „Aber wie?“
    „So.“ Er zog Jacke und Oberhemd aus und zuletzt ein feinmaschiges Netzunterhemd. Das behielt er zurück, als er schnell wieder in seine Sachen schlüpfte.
    „Brr!“ machte er dabei. „Warm ist es nicht gerade hier unten!“
    Sie merkten jetzt alle, daß ihnen kalt war. Sie waren für einen sommerlichen Ausflug gekleidet, und seit einer Stunde tappten sie hier in Finsternis und Feuchtigkeit umher. Die Wollsachen waren alle beim Gepäck auf dem Parkplatz geblieben. Aber der sonderbare Fischfang war doch zu verlockend. Er wurde unter Raymonds Anleitung rasch unternommen. Sie schoben die Algen auf einen engen Raum zusammen, wobei der Grund möglichst wenig aufgerührt werden durfte. Dann faßten Raymond und Pierre jeder zwei Enden des ,Netzes‘ und tauchten die Arme ins Wasser. Sie hielten das ausgebreitete Hemd etwa einen halben Meter unter der Oberfläche des Tümpels und berührten dabei fast den Grund. Nun mußten die anderen das Wasser vom Fuße der Felswand her in Bewegung setzen und es in der Richtung auf das ,Netz‘ hin immer mehr aufwühlen. Das Manöver gelang.
    „Hochziehen!“ rief Raymond.
    Gleichzeitig hoben sie die Enden des Netzes aus dem Wasser. Zwei Fische zappelten darin und versuchten vergeblich, wieder freizukommen.

    „Es könnten kleine Breitlinge sein“, sagte Raymond. „Nur die Schuppen sind ganz ohne Glanz.“
    „Ich finde auch, daß sie für Breitlinge einen reichlich komischen Kopf haben“, meinte Pierre.
    „Stimmt“, sagte Suzanne. „Man sieht überhaupt keine Augen.“
    Raymond faßte einen der Fische hinter den Kiemen und hielt ihn dicht an die Lampe, um ihn besser betrachten zu können. An Stelle von Augen war nur ein kaum bemerkbarer kleiner Spalt zu entdecken. Kein Zweifel: das Tier war blind. Das kommt bei Fischen in unterirdischen Gewässern gelegentlich vor. Da sie ohne Licht leben müssen, verkümmern ihre Augen von Generation zu Generation mehr und verschwinden zuletzt gänzlich. So entsteht eine neue Tierart. Beim Graben artesischer Brunnen in der Wüste ist schon vorgekommen, daß blinde Fische von dem aus der Tiefe emporschießenden Wasser an das Tageslicht geschleudert wurden.
    „Dieser Breitling“, sagte Pierre, „ist der beste Beweis, daß der kleine See hier seit vielen Jahrhunderten ohne Verbindung mit dem Meere ist. Sonst hätten die Fische, die hier in der Gefangenschaft leben, nicht ihre Augen verloren.“
    „Und doch muß eine Verbindung da sein!“ wandte Suzanne ein. „Ohne irgendeinen Zufluß wäre der See ja längst ausgetrocknet.“
    „Vielleicht gibt es Quellen im Felseninnern. Am Fuß des Mont Saint-Michel

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