Der versunkene Wald
meinem Vater hier war, hatten wir Lampen mit. Dadurch ist es mir wohl gar nicht so lange vorgekommen …“
„Ich bin ein kompletter Idiot!“ rief Raymond. „Ich habe doch meine Taschenlampe mit! Wenn du nicht etwas von Lampen gesagt hättest, wäre es mir nicht eingefallen. Man kommt in diesem Kellerloch gänzlich durcheinander!“ Raymond wühlte in seinem Tornister. Plötzlich durchdrang ein Lichtstrahl wunderbar die unterirdische Finsternis. Das erste, worauf Raymonds Blick fiel, war eine Träne, die über die Wange seines kleinen Bruders lief. Er tat, als hätte er sie nicht gesehen, und rief mit betonter Fröhlichkeit: „Seht bloß, wie hübsch es hier ist! Hierher müßte man die Touristen führen. ,Meine Damen und Herren, bewundern Sie bitte die Basreliefs an der Decke! Sie sehen eine prachtvolle Bildhauerarbeit aus dem hunderttausendsten Jahrhundert vor Christus …!‘“
Pierre hob den Kopf und verstand, worauf der Scherz anspielte. Der Abstieg war direkt in den Felsen geschlagen oder vielmehr: Es sah aus, als habe man einfach einen natürlichen Durchbruch benutzt, wahrscheinlich eine Spalte zwischen zwei geologischen Schichten. Darum verlief die Treppe jetzt gerade und nicht mehr in Windungen wie zu Beginn ihres Abstieges. Sie mußten sich, seit sie unterwegs waren, auch in horizontaler Richtung schon weit vom Ausgangspunkt ihrer heimlichen Entdeckungsreise entfernt haben. Die ,Decke‘ bestand aus Schiefergestein; Tropfsteingebilde und grünliche Moose hingen da und dort herab.
Mit einem Schlage wurde es Pierre klar, daß er mit seinem Vater niemals hier gewesen war. Wenn sie den richtigen Weg gegangen wären, hätten sie längst in der Krypta sein müssen. Er hatte sich geirrt. Er mußte das den anderen sofort mitteilen.
„Raymond, hör mal … ich muß dir etwas sagen …“
„Was gibt es denn?“
„Ich weiß nicht mehr, wo wir sind. Hierher wollte ich nicht mit euch gehen. Ich habe den richtigen Weg verloren.“ Er wunderte sich selbst, welchen beunruhigenden Klang das Wörtchen ,verloren‘ auf einmal hatte. Verloren? Sie waren doch nicht verloren! Es war ganz einfach, umzukehren und den Treppenabsatz wiederzufinden, die Wendeltreppe, die holzverschlagene Mauerlücke. Und sogar den Fremdenführer! Der Mann war eigentlich ganz nett gewesen … Und doch, in anderer Beziehung war es richtig, daß sie sich verloren hatten, weil er ja nicht mehr wußte, wo sie waren. Er mußte es aufgeben, als Oberhaupt aufzutreten, so peinlich das für sein Selbstbewußtsein war. Mochte Suzanne über ihn denken, was sie wollte! Raymond war der älteste und brauchte nur das Kommando wieder zu übernehmen.
Aber Raymond sah gar nicht aus, als ob er das Geständnis besonders tragisch nähme.
„Wenn schon“, sagte er. „Wir haben uns verlaufen, und wir werden uns auch wieder zurechtfinden. Wir können jederzeit umkehren, sobald wir genug haben. Aber erst will ich wissen, wohin diese Treppe eigentlich führt.“
„Ach ja!“ sagte Suzanne. „Jetzt sind wir einmal hier, da können wir doch ruhig noch ein bißchen weitergehen.“
Die beiden Kleinen widersprachen nicht. Nun die Lampe brannte, war ihre Angst wie weggeblasen. Pierre schämte sich des Schreckens, der ihn vorhin befallen hatte. Und obwohl er tief innen das deutliche Gefühl hatte, daß sie im Begriff waren, eine große Dummheit zu begehen, setzte er sich allen voran wieder in Bewegung.
Sie brauchten nicht weit zu gehen, um Neues zu finden. Es ging jetzt weniger steil abwärts, und Stufen kamen nur noch in größeren Abständen. Die Treppe ging in einen leicht geneigten Abhang und schließlich in einen ziemlich eben verlaufenden Gang über, der so breit war, daß man darin nebeneinander gehen konnte. Suzanne hielt sich an Pierres Seite, während Raymond, der die Lampe an seiner Jacke befestigt hatte, Jean an die eine, Jacques an die andere Hand nahm.
Ihre Neugier war wieder mächtig angestachelt. Der Gang schien zu keinem Gebäude mehr zu gehören. Er war wie eine natürliche Höhlung, eine langgestreckte, niedrige Grotte, so niedrig, daß Pierre, der der längste von ihnen war, sich manchmal bücken mußte, um nicht mit dem Kopf an die Felsdecke zu stoßen. Moose von sehr bleichem Grün bedeckten die Wände. Ein Geruch von salziger Feuchtigkeit war zu verspüren. Plötzlich hörte Suzanne, wie es unter ihrem Fuße plätscherte, und schrie leise auf. Sie war in eine Pfütze über feinem Sande getreten. Raymond richtete den Lichtstrahl seiner
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