Der versunkene Wald
Steinwölbungen verräterisch widergehallt.
Kurz bevor sie den ,Wächtersaal‘ wieder erreichten, wies Pierre auf ein Loch in der Seitenwand, das sie vorhin beim Heraufkommen gar nicht beachtet hatten. Ein Teil des alten Mauerwerkes mußte hier in eine Kellerhöhle hinabgestürzt sein, und der Zugang war mit Brettern verschlagen. Ohne Zögern nahm Pierre einen dicken Holzpflock weg und zog eines der Bretter heraus, als öffne er eine Tür.
„Rasch!“
Schweigend und hastig zwängten sich die Meerkatzen durch die schmale Öffnung, Pierre ging als letzter, brachte das Brett wieder in die richtige Lage und schob seine Finger behutsam durch einen Spalt, um auch den Pflock wieder an seinem Platz zu befestigen.
„So — das wäre geschafft“, sagte er. „Geht weiter; wir bleiben besser nicht zu lange so nahe bei der Treppe stehen. Aber paßt gut auf, wohin ihr tretet. Dies hier ist kein Touristenweg mehr. Überall liegen Steine.“
Die Meerkatzen, die sich zuerst ein wenig ängstlich hinter dem Bretterverschlag zusammengedrängt hatten, gehorchten sofort und stiegen vorsichtig ein paar Stufen abwärts. Sie befanden sich auf einer ziemlich breiten und sehr hohen Wendeltreppe, auf die von oben gedämpftes Licht fiel. Freilich war sie in recht schlechtem Zustand; die Wiederherstellungsarbeiten, die auf den für Touristen zugelassenen Wegen die Sicherheit verbürgen, waren nicht auf sie ausgedehnt worden. Viele Stufen waren abgebröckelt; andere fehlten fast ganz. Pierres Rat war nicht überflüssig gewesen.
„Warum gehen wir eigentlich die Treppe hinunter statt hinauf?“ fragte Jacques, dem es auf fiel, daß es immer dunkler wurde, je tiefer sie kamen.
Wirklich waren sie, ohne zu überlegen, zuerst nach unten geklettert.
„Wir wären nicht sehr weit gekommen, wenn wir aufwärts gegangen wären“, antwortete Pierre. „Soviel ich mich erinnere, kommt die Treppe bei einer Terrasse heraus, wo wir die Gesellschaft mit dem Führer wiedertreffen würden.“
„Du bist also schon einmal mit deinem Vater hier gewesen?“ fragte Raymond.
„Ja. Geht vorsichtig, man sieht immer schlechter, und es kommen Löcher. Die Treppe führt zu einer Art Krypta hinunter, die man erst vor ein paar Jahren wiederentdeckt hat.“
„Was haben sie in der Krypta gefunden? Gerippe?“ wollte Suzanne wissen. Unheimliche Geschichten waren sehr nach ihrem Geschmack.
„Nicht mal ein Schienbein. Nur einen Haufen von alten Kleidungsstücken und Sandalen, die wahrscheinlich den Mönchen gehört haben.“
Nach etwa fünfzig Stufen gelangten sie zu einem Absatz, bei dem eine neue Treppe begann. Sie war enger, ging aber gerade abwärts, nicht mehr in Spiralform. Ihre Stufen waren steil und in der Dunkelheit schwer zu erkennen.
„Kann man wenigstens in deiner Krypta Licht anknipsen?“ erkundigte sich Suzanne im ernsthaftesten Ton der Welt.
„Dafür haben die Mönche leider zu sorgen vergessen. Aber sie haben ein Luftloch offengelassen, durch das genügend Licht hereinkommt. Wartet mal …“
Pierre, der als erster ging, zögerte einen Augenblick. Er hatte eben einen auf den Treppenabsatz mündenden gewundenen Gang bemerkt. Nur der Eingang war mehr zu ahnen als tatsächlich zu sehen; alles übrige verlor sich in tiefer Finsternis. Die Kameraden, die im Gänsemarsch folgten, stockten und blieben unbeweglich stehen. Erst jetzt wurde ihnen allen bewußt, wie tief die Stille hier unten lastete. Es war das Grabesschweigen unterirdischer Gewölbe, das nie auch nur durch den leisesten Laut belebt wird. Ein wunderliches Gefühl der Verlassenheit überkam sie.
„Warum geht es nicht weiter?“ fragte der kleine Jacques mit etwas zittriger Stimme. „Was ist denn?“
„Nichts, nichts!“ antwortete Pierre. „Man wird ja mal einen Moment verschnaufen dürfen. Also — los!“
Sie stolperten auf den obersten Stufen der neuen Treppe über herabgefallene Steine und Trümmer von Mauerschutt. Nur noch undeutlich konnte jeder die Gestalt des vor ihm Gehenden erkennen. Suzanne folgte Pierre, dann kamen die beiden Kleinen, die sich instinktiv dicht hintereinander hielten, und als letzter folgte Raymond. Von Zeit zu Zeit wandte er den Kopf zurück nach dem Lichtstrahl hoch oben, der schwach und immer schwächer wurde.
Bald erlosch er ganz. Sie tasteten sich vorwärts wie die Blinden.
„Geht es noch lange so im Dunkeln weiter?“ fragte Raymond plötzlich.
„Ich glaube nicht“, murmelte Pierre. „Ich weiß es nicht mehr so genau. Als ich mit
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