Lied aus der Vergangenheit
1
Auf dem Eisenbett hat sich ein einzelnes dürftiges Laken über die Form des unter ihm liegenden Körpers ergossen. Auf dem Nachtschränkchen liegt ein kleiner Stoß Spiralhefte, daneben steht eine Vase mit Blumen, knallbunt und aus Plastik. Die Hefte sind abgegriffen, die Blätter wellig vor Feuchtigkeit. In der Atmosphäre des Zimmers gleiten die Erinnerungen eines Mannes dahin und nehmen Gestalt an. Der Mann im Bett erzählt gerade eine Geschichte. Sein Name ist Elias Cole.
Adrian wendet sich von dem Foto ab. Er hört zu. Er ist neu hier.
Elias Cole sagt:
Als ich eines Morgens zum College ging, hörte ich ein Lied. Es kam aus einem Radio, das an einem Marktstand spielte. Ein Lied aus einem fernen Land, über eine verlorene Liebe. Zumindest stellte ich mir das so vor – den Text verstand ich nicht, nur die Melodie. Aber in den tiefen Tönen konnte ich den Verlust hören, den dieser Mann erlitten hatte. Und bei den hohen Tönen begriff ich außerdem, dass das Lied von etwas handelte, das niemals sein konnte. Ich hatte seit Jahren nicht geweint. Doch da, in dem Moment, tat ich es, am Rand einer staubigen Straße, umgeben von Fremden. Die Melodie blieb mir jahrelang im Gedächtnis.
Genau so ist es, wenn man eine Frau zum ersten Mal sieht und weiß, dass man sie lieben könnte. Die Menschen täuschen sich, wenn sie von Liebe auf den ersten Blick reden. Es ist nicht Liebe und auch nicht Lust. Nein. Was man empfindet, wenn sie sich von einem entfernt, ist Verlust. Die Vorahnung eines Verlusts.
Ich hatte nie geglaubt, dass ich dieses Lied je wieder hören würde. Dann, vor einem Monat, oder vielleicht ist es auch zwei Monate her, als ich allein in dem Zimmer meines Hauses saß, das als Arbeitszimmer dient, stand das Fenster offen, und da hörte ich, leise, jemanden draußen die Melodie pfeifen und Fetzen des Refrains singen. Eine Frauenstimme. Genau das Lied von vor so vielen Jahren. Ich rief nach Babagaleh, der zur Abwechslung einmal sofort kam. Ich schickte ihn hinunter auf die Straße, damit er die Person fand, die da pfiff. Er blieb eine scheinbare Ewigkeit weg. Und während ich wartete, konnte ich nichts anderes tun, als meinem Herzen zu lauschen, das im Takt meiner Ungeduld schlug.
Die Person, die Babagaleh zu mir brachte, war ein Bauarbeiter, ein Fula, gekleidet in eine zerrissene Hose, mit bloßer Brust und mit Zementstaub bedeckt, der mich an Leichenasche erinnerte. Babagaleh scheuchte ihn von den Teppichen hinunter, aber ich rief ihn wieder zu mir her. Ich bat ihn zu singen, und er sang, irgendein anderes Lied. Ich hätte es Babagaleh ohne Weiteres zugetraut, den Erstbesten gerufen zu haben, den er vom Tor aus gesehen hatte. Ich summte ein paar Töne, so wie ich sie in Erinnerung hatte.
Und da sang der Mann, der vor mir stand, und da waren das Lied und seine Stimme, mädchenhaft und hoch. Nachdem er für mich gesungen hatte, bat ich ihn, mir die Bedeutung der Worte zu erklären. Das Lied handelte tatsächlich vom Verlust, aber nicht von dem einer Frau. Im Lied sehnte sich ein junger Mann nach einer vergangenen Zeit, einer Zeit, die er nur aus den Worten derer kannte, die sie erlebt hatten, einer Zeit der Hoffnung und der Träume. Er sang von dem Leben, das ihm nicht zuteilgeworden war, weil er das Pech gehabt hatte, viel später geboren worden zu sein, als die Welt schon ein anderer Ort war.
An dem Morgen war ich später als gewohnt aufgewacht. Babagaleh war schon seit Stunden auf gewesen. Als Muslim, ein Mann aus dem Norden, ist er jeden Morgen um fünf mit dem Gebetsruf auf den Beinen, was eine seiner guten Eigenschaften ist. Außerdem trinkt er nicht und ist ein ehrlicher Mensch, was mehr ist, als man von vielen sagen kann. Aber ein hitziges Temperament, diese Nordmenschen! Ich rief ihm zu, er solle einen Eimer heißes Wasser ins Bad bringen, damit ich mich rasieren konnte. Zurzeit gibt es kein heißes Wasser, man kann von Glück sagen, wenn es überhaupt Wasser gibt. Aus den Hähnen kommt nichts, und das schon seit mehreren Tagen. Für solche Eventualitäten hatten wir ein Fass hinter dem Haus.
»Ich will heute das Arbeitszimmer in Ordnung bringen«, sagte ich ihm. »Wenn du vom Markt zurückkommst, findest du mich dort.«
»Heute ist Freitag«, erwiderte er, während er das Waschbecken füllte, um sich gleich wieder zurückzuziehen. Ich saß, noch immer im Pyjama, auf dem Rand der Badewanne und bemühte mich, die Kraft aufzubringen, aufzustehen und das Waschbecken zu erreichen. Natürlich,
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