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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Rouzé
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kommen auch kleine Bäche zu Tage und verlaufen dann im Sand.“
    „Quellen haben Süßwasser. Aber dies hier ist genauso salzig wie der Ärmelkanal!“
    „Suzanne hat recht“, gab Raymond zu. „Also muß es doch einen Zufluß von der Bucht her geben, aber wahrscheinlich durch Schichten von Sand hindurch, die zwar das Wasser, aber keine Fische durchlassen.“
    Sie wickelten ihren Fang sorgfältig in ein Taschentuch und drangen, gespannt auf neue Entdeckungen, weiter in die fremde Welt hier unten vor. Raymonds Lampe schaukelte auf seiner Brust, und die Schatten der Meerkatzen tanzten phantastisch auf dem moosbedeckten Felsen. Hinter dem Tümpel ging es wieder aufwärts. Schließlich stießen sie auf einen glatten, trockenen Stein von beträchtlicher Größe, der eine natürliche Bank bildete.
    „Es wird Zeit, daß wir umkehren“, sagte Raymond. „Ich schlage vor, daß wir uns hier ein bißchen hinsetzen, denn der Rückweg wird anstrengender werden als der Abstieg. Da, nehmt erst mal einen Schluck zum Warmwerden!“

    Er ließ das Fläschchen für die ganz großen Gelegenheiten von Hand zu Hand gehen. Es enthielt für jeden nur soviel, um sich die Zungenspitze daran zu verbrennen. Raymond ließ genau den letzten Tropfen in seinen geöffneten Mund fallen, dann warf er die Flasche gegen die Felswand, daß sie in tausend Scherben zersplitterte. Sie blieben ein wenig länger als die vorgesehenen fünf Minuten sitzen, in träger Müdigkeit einer an den anderen gedrängt und mit erstarrten Gliedern.
    „Also — dann!“ entschloß sich Raymond endlich.
    Während sie aufstanden, drang durch die tiefe Stille ein sonderbares Geräusch an ihr Ohr. Erst klang es wie leises Beben, wie ein sanftes und anhaltendes Reiben. Sie lauschten, ohne «ich zu rühren. Der schabende Ton verstärkte sich, dann war deutlich ein Plätschern zu vernehmen.
    „Als ob hier irgendwo Wasser liefe“, sagte Jean.
    Raymond begriff plötzlich die Gefahr. „Schnell! Schnell!“ rief er. „Wir müssen hinauf!“
    Aber um nach oben zu gelangen, mußten sie zuerst die abfallende Wegstrecke bis zu der Lache zurück. Sie hasteten vorwärts. Das Wasser hatte bereits die ganze Breite des Ganges überschwemmt. Es stieg so rasch, als habe sich irgendwo mitten im Felsgestein eine Schleuse geöffnet. Im Handumdrehen füllte sich der Gang wie ein Bottich mit Wasser. Todesangst im Herzen, schätzte Raymond mit den Augen ab, wieviel Raum zwischen Wasser und Deckenwölbung an der tiefstgelegenen Stelle noch übrigblieb. Höchstens sechzig Zentimeter mochten es sein. Und bis dorthin waren noch mehrere Meter in der ständig steigenden Flut zu waten. Wenn sie sich darauf einließen, so bedeutete das mit größter Wahrscheinlichkeit, daß sie alle ertrinken würden wie die Ratten. Raymond überlegte blitzschnell. Dort, wo sie herkamen, stieg der Boden wieder an.
    „Zurück!“ befahl er. „Wir kommen jetzt nicht mehr durch.“
    Schon reichte das Wasser ihnen bis an die Knöchel. Als sie wieder bei der Steinbank angelangt waren, hörten sie hinter sich ein mächtiges Glucksen. „Ploff!“ machte es und hallte dumpf im ganzen Gang wider. Das steigende Wasser hatte die Deckenwölbung erreicht. Der Rückzug war abgeschnitten.

IV. Kapitel
    WASSER UND FINSTERNIS
    Stumm nahmen sie die Plätze auf der Steinbank wieder ein, die sie zwei Minuten zuvor verlassen hatten. In wahrhaft gefährlicher Lage darf man sich nicht den Luxus erlauben, Angst zu haben. Man muß sich wie ein Mann betragen und der Gefahr ins Auge blicken. Das waren die Regeln, die den Meerkatzen immer als Leitstern dienten, und sie hielten auch in dieser kritischen Situation, in die ihr Tatendrang sie gebracht hatte, an ihnen fest. Selbst Jacques, der vorhin auf der Treppe der Abtei seine Tränen nicht zurückhalten konnte, war tapfer und bereit, alles nach besten Kräften zu befolgen, was sein großer Bruder anordnen würde.
    Alle sahen auf Raymond. Er war ihr Oberhaupt, und sie vertrauten ihm, daß er sie aus ihrer bösen Lage schon wieder befreien würde. Sie konnten seine Züge nicht erkennen, weil er die Taschenlampe an der Brust trug, so daß sein Gesicht im Schatten lag.
    Raymond starrte in die Tiefe des Felsenganges, wo jetzt schon in einer Entfernung von höchstens zehn Metern das Wasser einströmte.
    Wenn unter freiem Himmel die Flut steigt, so hat das nichts Erschreckendes. Soll sie wirklich gefährlich werden, so bedarf es dazu außergewöhnlicher Bedingungen, etwa daß man sich am Strande

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