Der Vierte Tag
Feststellung des Todes - Tag, Monat, Jahr, Uhrzeit«.
»Schreiber, gib mir den Schein.« Er schaute mich fragend an. »Paß auf, Doktor. Der Mann ist hier gestorben. Du hast ihn lebend bis hierher gebracht.« Schreiber seufzte erleichtert. »Aber du kannst dich revanchieren. Sei so nett, und jag seine Blutprobe noch eben durch die Zentrifuge, und stell es in die Tiefkühltruhe. Dann wird es Zeit, daß du dich wieder einsatzbereit meldest. Berlin braucht dich, das Leben geht weiter!«
Also füllte ich den Leichenschauschein aus und unterschrieb ihn. Als Todeszeit trug ich »19 Uhr 10« ein, fünf Minuten nach Einlieferung in die Klinik. Daß ich damit fast meinen eigenen Leichenschauschein unterschrieben hatte, jedenfalls ein Freilos für eine Menge Ärger, davon ahnte ich zu diesem Zeitpunkt nichts. Und, wie das so mit Ärger ist, man hat ihn sich meistens selbst zuzuschreiben.
2
In der Nacht kam dann die übliche Mischung von Kranken, Hypochondern und Leuten, die für morgen früh einen Flug nach Asien, in die Karibik oder wer weiß wohin gebucht hatten und sich eben noch einmal unverbindlich über ihren Gesundheitszustand informieren wollten oder bitte pronto gegen Typhus, Pest und Cholera geimpft zu werden wünschten. Wirklich Kranke sind das kleinste Nachtdienstproblem, man stellt eine Diagnose und beginnt die Behandlung, oder man stellt eine andere Diagnose und verlegt sie in die zuständige Abteilung. Hingelegt hatte ich mich auch ein paarmal, aber immer nur so lange, um nicht zu vergessen, wie schön es eigentlich ist, in der Nacht im Bett zu liegen.
Beim Frühstück traf ich Heinz Valenta von der Intensivstation und Hartmut von der Chirurgie in unserer gemütlichen Krankenhaus-Cafeteria, einer gelungenen Kreuzung aus DDR-Restaurant und Autobahnraststätte. Wie die beiden graublaß und übermüdet an ihren belegten Brötchen nagten und dazu ihren Kaffee schlurften, bekam ich einen guten Eindruck von meinem aktuellen Aussehen. (Ich mache schon lange nicht mehr den Fehler, nach einem Nachtdienst in den Spiegel zu sehen - wie sollte ich mich dann noch zu meinen Patienten trauen?) Im Frühstücksfernsehen liefen Bilder von weit über die afrikanische Hochebene verstreuten Flugzeugteilen, es hatte einen Airbus kurz nach dem Start erwischt. Unsere kleinen Erfolgsgeschichten aus der vergangenen Nacht erschienen uns plötzlich recht relativ.
Wir mußten uns beeilen mit unseren leckeren Cafeteria-Brötchen, die seit der Privatisierung unserer Krankenhausküche, jetzt als »Hospital Catering Service« firmierend, auch nicht frischer geworden waren. Frühstück nach dem Nachtdienst ist im Dienstplan nicht vorgesehen, da um diese Zeit die Bettenkonferenz läuft. Vorher sollte man das Blutabnehmen auf der Station erledigt haben, um die Laborwerte möglichst früh zu bekommen, und den Rausschmiß der mehr oder weniger gesundeten Patienten, um Platz für neue zu schaffen. Die morgendliche Bettenkonferenz zu schwänzen ist ein schwerer taktischer Fehler, hier werden die neuen Patienten auf die Stationen verteilt, und dabei wird geschachert wie auf einem orientalischen Basar.
Als ich mit Heinz Valenta in den Besprechungsraum der Inneren Abteilung gehetzt kam, mit dem Nachgeschmack von hartgekochten Eiern im Mund und einem neuen Kaffeefleck auf dem Kittel, war das Feilschen schon voll im Gang. Ich hatte in der Nacht noch zwei ältere Patienten mit Schlaganfall aufgenommen, und jetzt mußte die Tagschicht der Aufnahmestation die beiden irgendwie loswerden.
»Bringt mir bloß keinen Schlaganfall mit!« Diese Mahnung wird den Stationsärzten jeden Morgen erneut von ihrer Stationsschwester auf die Bettenkonferenz mitgegeben, und sie ist verständlich. Viel Arbeit für ohnehin überlastete Schwestern, und nur selten, wenn überhaupt, kleine Erfolge. Es traf wie immer die Stationen, die nur durch ihren AIPIer, ihren Arzt-im-Praktikum, vertreten waren, weil der Stationsarzt lieber mit seinen Schwestern Kaffee trank.
Die Bettenkonferenz hieß ursprünglich Morgenkonferenz und war gedacht, um Problemfälle auf den Stationen oder aus den Nachtdiensten zu diskutieren. Aus diesem historischen Grund nahm fast immer das gesamte Zentralkomitee teil: die Chefärzte unserer drei Inneren Abteilungen und Professor Dohmke, der Herr über ein vollautomatisiertes – und inzwischen auch privatisiertes – Labor und gegenwärtig ärztlicher Leiter der Klinik.
Die Herren Chefärzte und Professor Dohmke hatten seit Jahren keinen Nachtdienst
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