Der Vierte Tag
Patienten vorgelegt, ich hätte keine Chance gehabt.
»Was machen wir jetzt?« fragte Schreiber etwas kleinlauter als vorher, nun wieder Schreiber mit weniger als einem Jahr Klinikerfahrung.
Die Entscheidung war leicht – ab in die Pathologie. Das hört sich ziemlich einfach an, ist es aber nicht. Die Frage war nämlich, ist dieser Patient tot eingeliefert worden, oder hat er ausgerechnet einen Zentimeter hinter der Schwelle der Aufnahmestation seinen letzten Seufzer gemacht. Das entscheidet die eigentliche Frage, wer nämlich den Papierkram macht und sich um den Transport in die Pathologie kümmern muß, der Notarztwagen oder die Aufnahmestation. Und genau das hatten die Rettungssanitäter mit ihrem »bis eben hatta noch geschnauft« gemeint.
»Nimm dir einen Kaffee, Schreiber. Dichte ein schönes Protokoll, und dann machen wir zusammen einen wunderschönen Totenschein.«
Ein bißchen tat mir Schreiber leid. Der Nachtdienst auf dem Notarztwagen ist nicht sehr beliebt, weil arbeitsintensiv, und wird deshalb in der Regel den jüngeren Kollegen aufgedrückt mit dem Argument, was man da für tolle Erfahrungen sammeln könne. Und richtig, Schreiber hatte heute etwas gelernt: Auch unser Rundum-Sorglos-Paket schützt den Doktor nicht davor, daß ihm der Patient trotz aller Hightech-Apparate einfach wegstirbt.
Für die Rettungssanitäter war der Fall abgehakt, sie tranken Kaffee mit den Aufnahmeschwestern und guckten sich das Ende der zweiten Halbzeit Deutschland-Rumänien an. Solange Schreiber mit seinem Protokoll beschäftigt war, brauchten sie sich nicht wieder einsatzbereit zu melden.
Wir hatten den Toten inzwischen in einen der Untersuchungsräume geschoben. Schreiber feilte an seinem Einsatzprotokoll, ich schaute mir die Leiche noch einmal genau an. Das Gesicht kam mir weiterhin bekannt vor, es fiel mir aber nicht ein, wohin ich es stecken sollte.
»Wo habt ihr den eigentlich aufgelesen?«
»In der Uhlandstraße«, Schreiber sah von seinem Papier hoch, »in so einem Asylantenhotel. Einsatzstichwort war plötzliche Bewußtlosigkeit‹. Bei den Wodkaflaschen, die da überall herumstanden, kein großes Wunder. Aber für nur besoffen war er einfach ein bißchen zu gelb. Wenn du mich fragst, alkoholtoxische Leberzirrhose, oder der Wodka war alle, und er hat es sich mit Brennspiritus gemütlich gemacht. Ich konnte nichts weiter herausbekommen. War zwar ein Haufen anderer Leute da, aber die konnten kein Deutsch oder wollten kein Deutsch können.«
»Habt ihr irgendwelche Papiere gefunden?«
»Hier, er hatte einen Paß in seiner Hose.«
Ein Paß aus der Ukraine, in kyrillischer Schrift. Aber auf einer der hinteren Seiten gab es ein Touristenvisum von der deutschen Botschaft in Kiew. Es berechtigte Tschenkow, Mischa, geboren am 20. April 1971, zu einem Besuch der Bundesrepublik Deutschland, gültig für drei Monate. Diese drei Monate waren vor einem guten Jahr abgelaufen.
Mit dem Paßfoto und dem Namen fiel mir endlich ein, woher ich ihn kannte: Mischa hatte in unserer Klinik saubergemacht, das Reinigungswesen hier ist voll in russich-ukrainischer Hand. Im Oktober letzten Jahres war er Patient auf meiner Station gewesen, aber eines Tages verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Nicht als Reinigungskraft, nicht als Patient. Er hatte damals keinen Hausarzt angegeben, also brauchte ich keinen Arztbrief zu schreiben und mir auch keine Diagnose aus den Fingern zu saugen. Und nun lag er quittegelb und mausetot vor mir.
»Was soll ich schreiben, wann er gestorben ist?«
Schreiber war offensichtlich beim kritischen Teil seines Einsatzprotokolls angelangt. Wir mußten uns entscheiden: Toteinlieferung oder Tod in der Klinik?
»Ich brauche jetzt erst einmal einen Kaffee. Laß uns den Leichenschauschein fertig machen, dann ergibt sich dein Protokoll von selbst.«
Wir gingen hinaus zu den Schwestern und den Rettungssanitätern.
»Es geht langsam los, Dr. Hoffmann. Du mußt dir einen Bauch im Untersuchungszimmer eins und eine Tablettenvergiftung in zwei anschauen.«
»Was für Tabletten?«
»Ist 'ne Achtzehnjährige, nur 'ne zwanziger Packung Valium S. Bißchen müde, voll ansprechbar, guter Druck.«
Dienst mit Schwester Sophie und ihrer Mannschaft ist ein Glücksfall. Dieser Mannschaft kann man ziemlich blind vertrauen, und hinter »bißchen müde, voll ansprechbar, guter Druck« würde sich nicht ein komatöses, halbtotes Mädchen verbergen.
»Macht schon mal Programm 3, ich muß noch eben mit Schreiber den Toten
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