Der viktorianische Vibrator: Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik (German Edition)
wurde in der Schlange von ihnen besucht und mit Nahrungsmitteln versorgt. Packer gilt als Profi unter den Warteschlangen-Sitzern: »Geschichte« schrieb er schon zuvor als der Mann, der als Erster am freigegebenen Ground-Zero-Zaun stand, als Erster das Kondolenzbuch für Prinzessin Diana in New York unterschrieb, als Erster einfacher US-Bürger George W. Bush zur Wahl gratulierte. Auf der Liste der Menschen, an deren Seite er es kurzfristig ins Licht der Öffentlichkeit schaffte, stehen neben zahlreichen Promis allein drei US-Präsidenten – was klar macht, wo Packers Motivation liegt: Bemerkt werden möchte er, das sorgt bei ihm offenbar für ein euphorisches Erfolgserlebnis. Seine größten Triumphe aber feierte er in den Warteschlangen der Technik-Fanatiker. Seit er das erkannt hat, ist er bei jeder wirklich »wichtigen« dabei. Technologie gehört seit rund zwei Jahrzehnten zu den Themen, für die sich die Menschen in der westlichen Hemisphäre mehr begeistern können als für irgendetwas anderes: Wenn es etwas Neues gibt in der Welt der Technik, dann schaut die Welt hin. Technik ist stofflich gewordene Popkultur.
Wenn Sie das alles für Gaga halten, sind Sie nicht allein, ich sehe das ähnlich. Wenn Sie aber wegen Packers Geschichte glauben, die Welt sei völlig verrückt geworden in ihrer Technik-Euphorie, würde ich widersprechen wollen: So bescheuert ist sie – respektive wir – schon sehr, sehr lange.
Seit rund 250 Jahren leben wir in einer Welt, deren herausragendes Wesensmerkmal es ist, dass sie sich ständig und rapide verändert. Das war davor auch nicht anders, lief aber bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlich langsamer ab. So lange, bis die Verbesserung der Dampfmaschine durch James Watt für eine technologisch-ökonomische und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und das Ende der Monarchie in Frankreich für eine politische Revolution sorgten, deren Auswirkungen auf die ganze Welt ausstrahlten.
Ende des 18. Jahrhunderts begann die Zeit zu rennen, wie man auch heute noch sagt. 1806 fasste der deutsche Dichter Gottlieb Konrad Pfeffel das Lebensgefühl, das die Welt damals zunehmend prägte, in wenige Zeilen, die er Das neue Jahrhundert nannte:
Ich sah auf einem Feld, das um und um
Frisch umgepflüget war, das neue Säkulum.
An seinem Gürtel hing ein Rosenkranz von Kronen,
Indes aus seiner vollen Hand
Ein schwarzer Samen fiel.
– Was säst du auf dies Land? –
Freund, sprach es, Revolutionen.
Daraus spricht kein Unbehagen, sondern Hoffnung: Obwohl Pfeffel in den Wirren der französischen Revolution das Gros seines Vermögens verloren hatte, war er Republikaner und glaubte an die Ideale der Aufklärung. Menschen wie er prägten den Begriff »Fortschritt« – den sie als Gegensatz zu Stillstand sahen und mit höchst positiven Gefühlen verbanden: Viele der Veränderungen, die die Menschen von da ab in ihrer Lebensspanne mitbekamen, wurden mit Begeisterung aufgenommen. Jede Generation glaubte seitdem, dass keine andere zuvor mehr Veränderungen miterlebt hätte als sie selbst.
Von den tiefgreifendsten Umwälzungen waren dabei die Generationen betroffen, die die Zeit zwischen 1850 und 1950 bewusst erlebten – und nicht etwa wir.
Mein Großvater, Jahrgang 1906, erlebte das Aufkommen und die Verbreitung von elektrischer und sanitärer Versorgung, Telefon, Auto, Radio, Fernsehen, Farbfilm, Flugzeug, Kühlung, Staubsauger und andere Haushaltselektrik, Antibiotika, moderne Gerätemedizin, Computer – und mehr. Er wuchs in einer bäuerlich-ländlich geprägten Welt auf, in der Zugtiere noch zum Alltag gehörten, und er sollte den großen Übergang erleben: In seiner Kindheit sah mein Großvater auf den Straßen Berlins noch Kutschen fahren neben Benzin-und Dampfautos. Gleichzeitig zuckelten elektrische Bahnen durch die Straßen, und auch die teils als Hochbahn, teils als unterirdisch ausgeführte U-Bahn war schon längst im Regelbetrieb, während in Schlesiens Kohlenrevieren unter Tage immer noch Ponys im Einsatz waren, um die beladenen Loren zu ziehen. Sein Leben erlosch Ende des 20. Jahrhunderts in einer Welt, in der die Landkarte ihre letzten weißen Flecken verloren, der Mensch die Tiefen des ozeanischen Marianengrabens wie auch den Mond besucht hatte und sich das Internet gerade anschickte, wieder einmal alles umzukrempeln.
Vor allem in der Pionierzeit von 1880 bis 1930, als die meisten der bis heute einflussreichsten Technologien erfunden wurden oder zur
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