Der Vollzeitmann
gescheitert. Nun war es an ihm aufzuräumen in diesem Saustall, mindestens zwei, drei Jahre lang. Er würde seinen Job als Partner perfekt erledigen, so wie alle Jobs.
Fast alle Jobs. Mit seinem Marathon-Training war er deutlich im Verzug. Er hatte keine Lust, zwei Stunden durch den Übeldunst der erwachenden Großstadt zu traben. Disziplin, Attila, ermahnte er sich. Er musste sein inneres Team wieder auf Kurs bringen. Jetzt sofort.
Berlin war ein unglaublicher Motivationskiller. Disziplin, Ausdauer, Erfolg waren nicht gefragt in dieser Stadt, wo
überall Luschen herumhingen, Kreaturen wie dieser fette Tankstellen-Trottel, der in sein albernes Mikrofon sabberte. Attila wurde schon beim Gedanken an all die Keime schlecht, die in dem Mikro-Gitter wohnten. Aber diese Penner, die hier Nachtschichten schoben, waren wohl unverwüstlich wie Kakerlaken, auch wenn sie nicht mal den Edelweiß-Express auf einem Volksfest in Sachsen-Anhalt ansagen könnten.
Immerhin: Der Kerl arbeitete wenigstens, noch jedenfalls. In zehn Jahren würde diese Tanke vollautomatisiert sein und das dämliche Gequatsche auch aufhören. Was ging den Kerl denn an, was Attila gerade in seinen Blackberry getippt hatte? Aktien kaufen? Wo war denn da der Hebel? Anfänger.
Attila versuchte sich zu erinnern, wo er die Musik gehört hatte, die der Tankstellen-Wicht da laufen hatte. War was Älteres auf jeden Fall. Klang nicht schlecht. Sollte er fragen? Niemals. Es gab nichts Uncooleres, als nach Musik zu fragen. Andererseits: Ein guter Chef blamiert sich jeden Tag, aber nur ein Mal. Sollte er seine heutige Blamier-Option jetzt schon ziehen? Das würde seine Spielräume für diesen Tag ziemlich einengen, was aber nicht weiter schlimm war, da er heute ohnehin nicht ins Büro ging. Er hatte seinen D-Day, den Durchcheck-Tag - Pflicht für alle Führungskräfte, einmal im Jahr.
Attila fühlte sich topfit, auch wenn das Marathon-Training ihn eher schlauchte als erfrischte. Morgens um kurz vor fünf raus, zwei Stunden Pace machen und dann ab ins Office, das war ein harter Start in den Tag. Kurz vor zehn bekam er immer Heißhunger und gleich darauf eine Tiefschlafattacke. Ausgerechnet um zehn Uhr, wenn die Videokonferenz mit München startete.
Neulich hatte ihn die Bindinger beim Gähnen erwischt.
»Na, hat Berlin jetzt nicht mal mehr Sauerstoff?«, hatte die alte Hexe gegurrt. Die ganze Runde von Schleimern und Hosenscheißern hatte gewiehert. Aber er hatte sofort gekontert und gefragt: »Was macht eigentlich Leipzig?« Schlagartig erstarb das Gelächter. Volltreffer. Leipzig war Bindingers Schwachstelle. Dort ging gar nichts. Und allein sie war dafür verantwortlich.
Karen Bindinger gehörte zu jener Sorte Frauen, die unangreifbar waren: exzellente Bildung, zwei Kinder, schnurgerade Karrierelinie, top Figur, na ja, nicht ganz top, die kleinen Beulen unterhalb des Hüftknochens würden sich über die Jahre zu zwei imposanten Satteltaschen auswachsen. Und die Oberarme lappten auch schon ganz schön. Die Bindinger wusste das.
Deswegen lief sie, ziemlich viel und ziemlich schnell, den Halbmarathon knapp unter hundert Minuten. Sie sah verdammt gut aus in den engen Laufklamotten, durchgehend schwarz natürlich, vor allem wenn sie schwitzte, nicht in stinkigen Pfützen, sondern eher feintropfig, als perle Champagner von ihr ab. Aber an einen ganzen Marathon hatte sich diese tolle Frau bislang noch nicht gewagt. Marathon, das war ihr zweites Leipzig. Und seine Chance. Wenn er weniger als zweihundert Minuten brauchte, würde Bindingers Halbmarathon-Mythos zerplatzen.
Mythen waren das Großartigste, aber auch das Schlimmste in einer Firma, dieses ewige halbwahre Geraune, das sich mit der Zeit in Realität verwandelte. Erst neulich hatte Attila »Die Macht der Mythen« gelesen, ein wirklich kluges Buch. These: Jede Hierarchie wurde durch die Mythen bestimmt, die einen Menschen umgaben. Mythos, das war mehr als Image, tiefer, stabiler. Es gab den Caligula-Mythos, den Herkules-Mythos, den Atlas-Mythos, den Cäsar-Mythos. Er würde den Attila-Mythos hinzufügen.
Jeder war in der Lage, seinen eigenen Mythos zu gestalten, behauptete das Buch, und zwar schneller als Julius Cäsar. Der hatte sich ganz schön Zeit gelassen, erst mal musste er die halbe Welt erobern, jede Menge Paläste, Tempel und Statuen in Auftrag geben, seine Mitstreiter beschenken und sich vor allem von seinem eigenen Sohn meucheln lassen - ein relativ aufwendiger Weg zum Dasein als Halbgott.
Als
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