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Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink
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weiß es genau. Und der Beziehung entzieht das Verleugnen ebenso den Boden wie die spektakulären Varianten des Verrats.
    Ich weiß nicht mehr, wann ich Hanna erstmals verleugnet habe. Aus der Kameradschaft der sommerlichen Nachmittage im Schwimmbad entwickelten sich Freundschaften. Außer meinem Banknachbarn, den ich aus der alten Klasse kannte, mochte ich in der neuen Klasse besonders Holger Schlüter, der sich wie ich für Geschichte und Literatur interessierte und mit dem der Umgang rasch vertraut wurde. Vertraut wurde er bald auch mit Sophie, die wenige Straßen weiter wohnte und mit der ich daher den Weg zum Schwimmbad gemeinsam hatte. Zunächst sagte ich mir, die Vertrautheit mit den Freunden sei noch nicht groß genug, um von Hanna zu erzählen. Dann fand ich nicht die richtige Gelegenheit, die richtige Stunde, das richtige Wort. Schließlich war es zu spät, von Hanna zu erzählen, sie mit den anderen jugendlichen Geheimnissen zu präsentieren. Ich sagte mir, so spät von ihr zu erzählen, müsse den falschen Eindruck erwecken, ich hätte Hanna so lange verschwiegen, weil unsere Beziehung nicht recht sei und ich ein schlechtes Gewissen hätte. Aber was ich mir auch vormachte – ich wußte, daß ich Hanna verriet, wenn ich tat, als ließe ich die Freunde wissen, was in meinem Leben wichtig war, und über Hanna schwieg.
    Daß sie merkten, daß ich nicht ganz offen war, machte es nicht besser. An einem Abend gerieten Sophie und ich bei der Heimfahrt in ein Gewitter und stellten uns im Neuenheimer Feld, in dem damals noch nicht Gebäude der Universität, sondern Felder und Gärten lagen, unter das Vordach eines Gartenhauses. Es blitzte und donnerte, stürmte und regnete in dichten, schweren Tropfen. Zugleich fiel die Temperatur um wohl fünf Grad. Wir froren, und ich legte den Arm um sie.
    »Du?« Sie sah mich nicht an, sondern hinaus in den Regen.
    »Ja?«
    »Du warst doch lange krank, Gelbsucht. Ist es das, was dir zu schaffen macht? Hast du Angst, daß du nicht mehr richtig gesund wirst? Haben die Ärzte was gesagt?Und mußt du jeden Tag in die Klinik, Blut austauschen oder Infusionen kriegen?«
    Hanna als Krankheit. Ich schämte mich. Aber von Hanna reden konnte ich erst recht nicht. »Nein, Sophie. Ich bin nicht mehr krank. Meine Leberwerte sind normal, und in einem Jahr dürfte ich sogar Alkohol trinken, wenn ich wollte, aber ich will nicht. Was mir …« Ich mochte, wo es um Hanna ging, nicht sagen: was mir zu schaffen macht. »Warum ich später komme oder früher gehe, ist was anderes.«
    »Möchtest du nicht darüber reden, oder möchtest du eigentlich schon und weißt nicht, wie?«
    Mochte ich nicht, oder wußte ich nicht, wie? Ich konnte es selbst nicht sagen. Aber wie wir da standen, unter den Blitzen, dem hell und nah knatternden Donner und dem prasselnden Regen gemeinsam frierend, einander ein bißchen wärmend, hatte ich das Gefühl, daß ich ihr, gerade ihr von Hanna erzählen müßte. »Vielleicht kann ich ein andermal darüber reden.«
    Aber es kam nie dazu.

16
     
    Ich habe nie erfahren, was Hanna machte, wenn sie weder arbeitete noch wir zusammen waren. Fragte ich danach, wies sie meine Frage zurück. Wir hatten keine gemeinsame Lebenswelt, sondern sie gab mir in ihrem Leben den Platz, den sie mir geben wollte. Damit hatte ich mich zu begnügen. Wenn ich mehr haben und nur schon mehr wissen wollte, war’s vermessen. Waren wir besonders glücklich zusammen und fragte ich aus dem Gefühl, jetzt sei alles möglich und erlaubt, dann konnte es vorkommen, daß sie meiner Frage auswich, statt sie zurückzuweisen. »Was du alles wissen willst, Jungchen!« Oder sie nahm meine Hand und legte sie auf ihren Bauch. »Möchtest du, daß er Löcher kriegt?« Oder sie zählte an ihren Fingern. »Ich muß waschen, ich muß bügeln, ich muß fegen, ich muß wischen, ich muß kaufen, ich muß kochen, ich muß die Pflaumen schütteln, auflesen, nach Hause tragen und schnell einkochen, sonst ißt der Kleine«, sie nahm den kleinen Finger ihrer Linken zwischen den rechten Daumen und Zeigefinger, »sonst ißt er sie ganz allein auf.«
    Ich habe sie auch nie zufällig getroffen, auf der Straße oder in einem Geschäft oder im Kino, wohin sie, wie sie sagte, gerne und oft ging und wohin ich in den ersten Monaten immer wieder mit ihr zusammen gehen wollte, aber sie wollte nicht. Manchmal redeten wir über Filme, die wir beide gesehen hatten. Sie ging eigentümlich wahllos ins Kino und sah alles, vom deutschen

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