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Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink
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daß Hanna Schmitz nicht zur Arbeit gekommen war. Ich ging zurück in die Bahnhofstraße, fragte in der Schreinerei im Hof nach dem Eigentümer des Hauses und bekam einen Namen und eine Adresse in Kirchheim. Ich fuhr dorthin.
    »Frau Schmitz? Die ist heute morgen ausgezogen.«
    »Und ihre Möbel?«
    »Das sind nicht ihre Möbel.«
    »Seit wann hat sie in der Wohnung gewohnt?«
    »Was geht das Sie an?« Die Frau, die sich mit mir durch ein Fenster in der Tür unterhalten hatte, machte das Fenster zu.
    Im Verwaltungsgebäude der Straßen- und Bergbahngesellschaft fragte ich mich zur Personalabteilung durch. Der Zuständige war freundlich und besorgt.
    »Sie hat heute morgen angerufen, rechtzeitig, daß wir die Vertretung organisieren konnten, und gesagt, daß sie nicht mehr kommt. Gar nicht mehr.« Er schüttelte den Kopf. »Vor vierzehn Tagen saß sie hier, auf Ihrem Stuhl, und ich habe ihr angeboten, daß wir sie zur Fahrerin ausbilden, und sie schmeißt alles hin.«
    Erst Tage später habe ich daran gedacht, zum Einwohnermeldeamt zu gehen. Sie hatte sich nach Hamburg abgemeldet, ohne Angabe einer Anschrift.
    Tagelang war mir schlecht. Ich achtete darauf, daß Eltern und Geschwister nichts merkten. Bei Tisch redete ich ein bißchen mit, aß ein bißchen mit und schaffte es, wenn ich mich übergeben mußte, bis zum Klo. Ich ging in die Schule und ins Schwimmbad. Dort verbrachte ich die Nachmittage an einer abgelegenen Stelle, wo mich niemand suchte. Mein Körper sehnte sich nach Hanna. Aber schlimmer als die körperliche Sehnsucht war das Gefühl der Schuld. Warum war ich, als sie da stand, nicht sofort aufgesprungen und zu ihr gelaufen! In der einen kleinen Situation bündelte sich für mich die Halbherzigkeit der letzten Monate, aus der heraus ich sie verleugnet, verraten hatte. Zur Strafe dafür war sie gegangen.
    Manchmal versuchte ich, mir einzureden, daß nicht sie es war, die ich gesehen hatte. Wie konnte ich sicher sein, daß sie es war, wo ich doch das Gesicht nicht richtig erkannt hatte? Hätte ich, wenn sie es gewesen war, ihr Gesicht nicht erkennen müssen? Konnte ich also nicht sicher sein, daß sie es nicht gewesen sein konnte?
    Aber ich wußte, daß sie es war. Sie stand und sah – und es war zu spät.

ZWEITER TEIL
    1
     
    Nachdem Hanna die Stadt verlassen hatte, dauerte es eine Weile, bis ich aufhörte, überall nach ihr Ausschau zu halten, bis ich mich daran gewöhnte, daß die Nachmittage ihre Gestalt verloren hatten, und bis ich Bücher ansah und aufschlug, ohne mich zu fragen, ob sie zum Vorlesen geeignet wären. Es dauerte eine Weile, bis mein Körper sich nicht mehr nach ihrem sehnte; manchmal merkte ich selbst, wie meine Arme und Beine im Schlaf nach ihr tasteten, und mehrmals gab mein Bruder bei Tisch zum besten, ich hätte im Schlaf »Hanna« gerufen. Ich erinnere mich auch an Schulstunden, in denen ich nur von ihr träumte, nur an sie dachte. Das Gefühl einer Schuld, das mich in den ersten Wochen gequält hatte, verlor sich. Ich vermied ihr Haus, nahm andere Wege, und nach einem halben Jahr zog meine Familie in einen anderen Stadtteil. Nicht daß ich Hanna vergessen hätte. Aber irgendwann hörte die Erinnerung an sie auf, mich zu begleiten. Sie blieb zurück, wie eine Stadt zurückbleibt, wenn der Zug weiterfährt. Sie ist da, irgendwo hinter einem, und man könnte hinfahren und sich ihrer versichern. Aber warum sollte man.
    Ich habe die letzten Jahre auf der Schule und die ersten auf der Universität als glückliche Jahre in Erinnerung. Zugleich kann ich nur wenig über sie sagen. Sie waren mühelos; das Abitur und das aus Verlegenheit gewählte Studium der Rechtswissenschaft fielen mir nicht schwer, Freundschaften, Liebschaften und Trennungen fielen mir nicht schwer, nichts fiel mir schwer. Alles fiel mir leicht, alles wog leicht. Vielleicht ist das Erinnerungspäckchen deshalb so klein. Oder halte ich es klein? Ich frage mich auch, ob die glückliche Erinnerung überhaupt stimmt. Wenn ich länger zurückdenke, kommen mir genug beschämende und schmerzliche Situationen in den Sinn und weiß ich, daß ich die Erinnerung an Hanna zwar verabschiedet, aber nicht bewältigt hatte. Mich nach Hanna nie mehr demütigen lassen und demütigen, nie mehr schuldig machen und schuldig fühlen, niemanden mehr so lieben, daß ihn verlieren weh tut – ich habe das damals nicht in Deutlichkeit gedacht, aber mit Entschiedenheit gefühlt.
    Ich gewöhnte mir ein großspuriges, überlegenes Gehabe an, ich

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