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Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink
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zu, die ich schon hatte, und erstarrten mit ihnen.

16
     
    Ich bin dann doch noch zum Vorsitzenden Richter gegangen. Zu Hanna zu gehen schaffte ich nicht. Aber nichts zu tun hielt ich auch nicht aus.
    Warum ich nicht schaffte, mit Hanna zu reden? Sie hatte mich verlassen, hatte mich getäuscht, war nicht die gewesen, die ich in ihr gesehen oder auch in sie hineinphantasiert hatte. Und wer war ich für sie gewesen? Der kleine Vorleser, den sie benutzt, der kleine Beischläfer, mit dem sie ihren Spaß gehabt hatte? Hätte sie mich auch ins Gas geschickt, wenn sie mich nicht hätte verlassen können, aber loswerden wollen?
    Warum ich nicht aushielt, nichts zu tun? Ich sagte mir, ich müsse ein Fehlurteil verhindern. Ich müsse dafür sorgen, daß Gerechtigkeit geschieht, ungeachtet Hannas Lebenslüge, Gerechtigkeit sozusagen für und gegen Hanna. Aber es ging mir nicht wirklich um Gerechtigkeit. Ich konnte Hanna nicht lassen, wie sie war oder sein wollte. Ich mußte an ihr rummachen, irgendeine Art von Einfluß und Wirkung auf sie haben, wenn nicht direkt, dann indirekt.
    Der Vorsitzende Richter kannte unsere Seminargruppe und war gerne bereit, mich nach einer Sitzung zu einem Gespräch zu empfangen. Ich klopfte, wurde hereingerufen, begrüßt und aufgefordert, mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch zu setzen. Er saß in Hemdsärmeln hinter dem Schreibtisch. Die Robe hing über Rücken- und Seitenlehnen seines Stuhls; er hatte sich in der Robe hingesetzt und sie dann hinabgleiten lassen. Er wirkte entspannt, ein Mann, der sein Tagwerk vollbracht hat und damit zufrieden ist. Ohne den irritierten Gesichtsausdruck, hinter dem er sich während der Verhandlung verschanzte, hatte er ein nettes, intelligentes, harmloses Beamtengesicht. Er plauderte drauflos und fragte mich nach diesem und jenem. Was unsere Seminargruppe über das Verfahren denke, was unser Professor mit den Protokollen vorhabe, in welchem Semester wir seien, in welchem Semester ich sei, warum ich Jura studiere und wann ich Examen machen wolle. Ich solle mich auf keinen Fall zu spät zum Examen melden.
    Ich beantwortete alle Fragen. Dann hörte ich ihm zu, wie er mir von seinem Studium und seinem Examen erzählte. Er hatte alles richtig gemacht. Er hatte zur rechten Zeit und mit gehörigem Erfolg die erforderlichen Übungen und Seminare und schließlich das Examen absolviert. Er war gerne Jurist und Richter, und wenn er, was er gemacht hatte, noch mal machen müßte, würde er es ebenso machen.
    Das Fenster stand offen. Auf dem Parkplatz wurden Türen zugeschlagen und Motoren angelassen. Ich hörte den Wagen nach, bis ihr Geräusch vom Rauschen des Verkehrs geschluckt wurde. Dann spielten und lärmten Kinder auf dem leeren Parkplatz. Manchmal war ein Wort ganz deutlich zu vernehmen: ein Name, ein Schimpfwort, ein Zuruf.
    Der Vorsitzende Richter stand auf und verabschiedete mich. Ich könne gerne wiederkommen, wenn ich weitere Fragen hätte. Auch wenn ich Rat im Studium bräuchte. Und unsere Seminargruppe solle ihn ihre Aus- und Bewertung des Verfahrens wissen lassen.
    Ich ging über den leeren Parkplatz. Von einem größeren Jungen ließ ich mir den Weg zum Bahnhof beschreiben. Unsere Fahrgemeinschaft war gleich nach der Sitzung zurückgefahren, und ich mußte den Zug nehmen. Es war ein Feierabend- und Bummelzug; er hielt Station um Station, Leute stiegen ein und aus, ich saß am Fenster, umgeben von immer anderen Mitreisenden, Gesprächen, Gerüchen. Draußen zogen Häuser vorbei, Straßen, Autos, Bäume und in der Ferne die Berge, Burgen und Steinbrüche. Ich nahm alles wahr und fühlte nichts. Ich war nicht mehr gekränkt, von Hanna verlassen, getäuscht und benutzt worden zu sein. Ich mußte auch nicht mehr an ihr rummachen. Ich spürte, wie sich die Betäubung, unter der ich den Entsetzlichkeiten der Verhandlung gefolgt war, auf die Gefühle und Gedanken der letzten Wochen legte. Daß ich darüber froh gewesen wäre, wäre viel zuviel gesagt. Aber ich empfand, daß es richtig war. Daß es mir ermöglichte, in meinen Alltag zurückzukehren und in ihm weiterzuleben.

17
     
    Ende Juni wurde das Urteil verkündet. Hanna bekam lebenslänglich. Die anderen bekamen zeitliche Freiheitsstrafen.
    Der Gerichtssaal war voll wie zu Beginn der Verhandlung. Justizpersonal, Studenten meiner und der örtlichen Universität, eine Schulklasse, Journalisten aus dem In- und Ausland und die, die sich immer in Gerichtssälen einfinden. Es war laut. Als die Angeklagten

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