Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)
hereingeführt wurden, achtete zunächst niemand auf sie. Aber dann verstummten die Besucher. Als erste wurden die still, die ihre Plätze vorne bei den Angeklagten hatten. Sie stießen ihre Nachbarn an und drehten sich zu denen um, die ihre Plätze hinter ihnen hatten. »Schaut doch«, tuschelten sie, und die, die schauten, wurden auch still, stießen ihre Nachbarn an, drehten sich zu ihren Hintermännern um und tuschelten »schaut doch«. Und schließlich war es ganz still im Gerichtssaal.
Ich weiß nicht, ob Hanna wußte, wie sie aussah, ob sie vielleicht sogar so aussehen wollte. Sie trug ein schwarzes Kostüm und eine weiße Bluse, und der Schnitt des Kostüms und die Krawatte zur Bluse ließen sie aussehen, als trage sie eine Uniform. Ich habe die Uniform der Frauen, die für die SS arbeiteten, nie gesehen. Aber ich meinte, und alle Besucher meinten, sie vor uns zu haben, die Uniform, die Frau, die in ihr für die SS arbeitete, die alles das tat, wessen Hanna angeklagt war.
Die Besucher fingen wieder zu tuscheln an. Viele waren hörbar empört. Sie fanden das Verfahren, das Urteil und auch sich, die sie zur Verkündung des Urteils gekommen waren, von Hanna verhöhnt. Sie wurden lauter, und einige riefen Hanna zu, was sie von ihr hielten. Bis das Gericht in den Saal kam und der Vorsitzende nach irritiertem Blick auf Hanna das Urteil verkündete. Hanna hörte stehend zu, in gerader Haltung und ohne jede Bewegung. Bei der Verlesung der Begründung des Urteils saß sie. Ich wandte den Blick nicht von ihrem Kopf und Nacken.
Die Verlesung dauerte mehrere Stunden. Als die Verhandlung beendet war und die Angeklagten abgeführt wurden, wartete ich, ob Hanna zu mir schauen würde. Ich saß da, wo ich immer gesessen hatte. Aber sie schaute geradeaus und durch alles hindurch. Ein hochmütiger, verletzter, verlorener und unendlich müder Blick. Ein Blick, der niemanden und nichts sehen will.
DRITTER TEIL
1
Den Sommer nach dem Prozeß verbrachte ich im Lesesaal der Universitätsbibliothek. Ich kam, wenn der Lesesaal öffnete, und ging, wenn er schloß. An den Wochenenden lernte ich zu Hause. Ich lernte so ausschließlich, so besessen, daß die Gefühle und Gedanken, die der Prozeß betäubt hatte, betäubt blieben. Ich vermied Kontakte. Ich zog zu Hause aus und mietete ein Zimmer. Die wenigen Bekannten, die mich im Lesesaal oder bei gelegentlichen Kinobesuchen ansprachen, stieß ich zurück.
Im Wintersemester verhielt ich mich kaum anders. Trotzdem wurde ich gefragt, ob ich mit einer Gruppe von Studenten über Weihnachten auf eine Skihütte mitkommen wolle. Verwundert sagte ich zu.
Ich war kein guter Skifahrer. Aber ich fuhr gerne und schnell und hielt mit den guten Skifahrern mit. Manchmal riskierte ich bei Abfahrten, denen ich eigentlich nicht gewachsen war, Stürze und Brüche. Das tat ich bewußt. Das andere Risiko, das ich einging und das sich schließlich erfüllte, nahm ich überhaupt nicht wahr.
Mir war nie kalt. Während die anderen in Pullovern und Jacken Ski fuhren, fuhr ich im Hemd. Die anderen schüttelten darüber den Kopf, zogen mich damit auf. Aber auch ihre besorgten Warnungen nahm ich nicht ernst. Ich fror eben nicht. Als ich anfing zu husten, schob ich’s auf die österreichischen Zigaretten. Als ich anfing zu fiebern, genoß ich den Zustand. Ich war schwach und zugleich leicht, und die Sinneseindrücke waren wohltuend gedämpft, wattig, füllig. Ich schwebte.
Dann bekam ich hohes Fieber und wurde ins Krankenhaus gebracht. Als ich es verließ, war die Betäubung vorbei. Alle Fragen, Ängste, Anklagen und Selbstvorwürfe, alles Entsetzen und aller Schmerz, die während des Prozesses aufgebrochen und gleich wieder betäubt worden waren, waren wieder da und blieben auch da. Ich weiß nicht, welche Diagnose Mediziner stellen, wenn jemand nicht friert, obwohl er frieren müßte. Meine eigene Diagnose ist, daß die Betäubung sich meiner körperlich bemächtigen mußte, ehe sie mich loslassen, ehe ich sie loswerden konnte.
Als ich das Studium beendet und das Referendariat begonnen hatte, kam der Sommer der Studentenbewegung. Ich interessierte mich für Geschichte und Soziologie und war als Referendar noch genug in der Universität, um alles mitzukriegen. Mitkriegen hieß nicht mitmachen – Hochschule und Hochschulreform waren mir letztlich ebenso gleichgültig wie Vietkong und Amerikaner. Was das dritte und eigentliche Thema der Studentenbewegung anging, die Auseinandersetzung mit der
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