Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink
Vom Netzwerk:
ihr nichts von Hanna erzählt. Wer will, dachte ich, von den früheren Beziehungen des anderen hören, wenn er nicht deren Erfüllung ist? Gertrud war gescheit, tüchtig und loyal, und wenn es unser Leben gewesen wäre, einen Bauernhof zu führen mit vielen Knechten und Mägden, vielen Kindern, viel Arbeit und ohne Zeit füreinander, wäre es erfüllt und glücklich geworden. Aber unser Leben waren eine Dreizimmerwohnung in einem Neubau in einem Vorort, unsere Tochter Julia und Gertruds und meine Arbeit als Referendare. Ich habe nie aufhören können, das Zusammensein mit Gertrud mit dem Zusammensein mit Hanna zu vergleichen, und immer wieder hielten Gertrud und ich uns im Arm und hatte ich das Gefühl, daß es nicht stimmt, daß sie nicht stimmt, daß sie sich falsch anfaßt und anfühlt, daß sie falsch riecht und schmeckt. Ich dachte, es würde sich verlieren. Ich hoffte, es würde sich verlieren. Ich wollte von Hanna frei sein. Aber das Gefühl, daß es nicht stimmt, hat sich nie verloren.
    Als Julia fünf war, haben wir uns scheiden lassen. Wir konnten beide nicht mehr, sind ohne Bitterkeit gegangen und in Loyalität verbunden geblieben. Gequält hat mich, daß wir Julia die Geborgenheit verweigerten, die sie sich spürbar wünschte. Wenn Gertrud und ich einander vertraut und zugetan waren, schwamm Julia darin wie ein Fisch im Wasser. Sie war in ihrem Element. Wenn sie Spannungen zwischen uns merkte, lief sie vom einen zum anderen und versicherte, wir seien lieb und sie habe uns lieb. Sie wünschte sich ein Brüderchen und hätte sich wohl auch über mehr Geschwister gefreut. Sie begriff lange nicht, was Scheidung bedeutet, und wollte, wenn ich zu Besuch kam, daß ich bleibe, und wenn sie mich besuchte, daß Gertrud mitkommt. Wenn ich ging und sie aus dem Fenster sah und ich unter ihrem traurigen Blick ins Auto stieg, brach es mir das Herz. Und ich hatte das Gefühl, daß das, was wir ihr verweigerten, nicht nur ihr Wunsch war, sondern daß sie ein Recht darauf hatte. Wir haben sie um ihr Recht betrogen, indem wir uns haben scheiden lassen, und daß wir es gemeinsam taten, hat die Schuld nicht halbiert.
    Meine späteren Beziehungen habe ich besser an- und einzugehen versucht. Ich habe mir eingestanden, daß eine Frau sich ein bißchen wie Hanna anfassen und anfühlen, ein bißchen wie sie riechen und schmecken muß, damit unser Zusammensein stimmt. Und ich habe von Hanna erzählt. Ich habe den anderen Frauen auch mehr von mir erzählt, als ich Gertrud erzählt hatte; sie sollten sich ihren Reim auf das machen können, was ihnen an meinem Verhalten und meinen Stimmungen befremdlich erscheinen mochte. Aber viel wollten die Frauen nicht hören. Ich erinnere mich an Helen, eine amerikanische Literaturwissenschaftlerin, die mir wortlos begütigend über den Rücken strich, als ich erzählte, und ebenso wortlos begütigend weiterstrich, als ich zu erzählen aufhörte. Gesina, eine Psychoanalytikerin, meinte, ich müsse mein Verhältnis zu meiner Mutter aufarbeiten. Falle mir nicht auf, daß meine Mutter in meiner Geschichte kaum vorkomme? Hilke, eine Zahnärztin, fragte immer wieder nach der Zeit, bevor wir zusammengekommen waren, aber vergaß alsbald, was ich ihr erzählte. So gab ich das Erzählen wieder auf. Weil die Wahrheit dessen, was man redet, das ist, was man tut, kann man das Reden auch lassen.

3
     
    Als ich mein zweites Examen schrieb, starb der Professor, der das KZ -Seminar veranstaltet hatte. Gertrud stieß in der Zeitung auf die Todesanzeige. Die Beerdigung war auf dem Bergfriedhof. Ob ich nicht hingehen wolle?
    Ich wollte nicht. Die Beerdigung war an einem Donnerstagnachmittag, und am Donnerstag- und Freitagvormittag hatte ich Klausuren zu schreiben. Auch waren der Professor und ich einander nicht besonders nah gewesen. Und ich mochte Beerdigungen nicht. Und ich mochte nicht an den Prozeß erinnert werden.
    Aber es war schon zu spät. Die Erinnerung war geweckt, und als ich am Donnerstag aus der Klausur kam, war mir, als hätte ich eine Verabredung mit der Vergangenheit, die ich nicht versäumen durfte.
    Ich bin, was ich sonst nicht tat, mit der Straßenbahn gefahren. Schon das war eine Begegnung mit der Vergangenheit, wie die Rückkehr an einen Ort, der einem vertraut war und der sein Gesicht verändert hat. Als Hanna bei der Straßenbahn war, gab es Straßenbahnzüge mit zwei oder drei Wagen, Plattformen am Wagenanfang und -ende, Trittbretter an den Plattformen, auf die man noch aufspringen konnte,

Weitere Kostenlose Bücher