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Der Vormacher

Der Vormacher

Titel: Der Vormacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand Decker
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ans Bett und halte ihre Hand. Zeit vergeht. Ich schließe die Augen. Bilder ziehen vorbei, ganz kurz nur, sie können meine Aufmerksamkeit nicht fesseln; der Chef vor dem Fenster, mit den Händen hinter dem Rücken ineinander verknäult; Linda, wie sie den Mund voll hat mit mir; Theodora und Emil, in der Haltung, in der ich immer an sie denken muss, die Dampfhammerhaltung also. Es bleiben Schemen, Phantome, die mich kalt lassen, ich ignoriere sie, als ob ich im Regen säße, ohne nass zu werden. Es gibt nur noch Jana und mich, versunken in der Stille des Nachmittags, dem ersten, den wir wirklich miteinander verbringen. Janas Mutter sitzt auf einem Stuhl beim Fenster, im Halbschlaf. Manchmal sinkt ihr Kopf nach hinten, gegen die Wand, und sie verfällt in ein eigenartiges Röcheln, aus dem sie schnell wieder erwacht, von ihrem eigenen Geräusch geweckt; dann schaut sie sich kurz um, verstört und verwirrt, nur um einen Augenblick später wieder wegzudämmern.
    »Sie ist die ganze Nacht wach gewesen«, flüstert Jana. »Deshalb.«
    »Du hast eine tolle Mutter«, erwidere ich. Jana drückt meine Hand.
    »Sie hat mir alles erzählt«, sagt sie. »Es tut ihr sehr leid. Sie denkt, alle Männer wären so wie ihr … wie mein …«
    »Wie dein Vater«, sage ich.
    »Ja.«
    Janas Vater Jakob ist eine legendäre Figur. Sie kennt ihn nicht persönlich. Er hat ihre Mutter verlassen, als Jana noch kein Jahr alt war, aber erst nachdem er Janas Tante ebenfalls geschwängert hatte, wie es heißt, in einer Bahnhofstoilette. Er soll noch acht andere Kinder haben, von acht verschiedenen Frauen, aber sicher weiß man es nicht; genauso wenig, wie man weiß, ob, wo und mit wem er jetzt lebt. Jana hasst ihn inbrünstig, doch ich erinnere mich, dass ihre Mutter, als er einmal beiläufig in einem Gespräch erwähnt wurde, plötzlich sehnsüchtig wirkte. Die Geschichten über Jakob habe ich immer mit einer Mischung aus Neugierde und Eifersucht angehört.
    »Zum Glück bist du anders«, sagt Jana.
    Ja, ich bin anders, ich laufe nicht weg, dazu bin ich viel zu feige. Aber das macht nichts. Wenn Emil bei einer anzüglichen Bemerkung rot wird, wenn selbst der Chef in eine Midlife-Crisis fällt, warum soll ich dann nicht zu feige sein, um wegzulaufen?
    »Ich bin so froh, dass du bei mir bist«, sagt Jana. »Bleibst du über Nacht?«
    »Natürlich«, antworte ich.
    »Erzähl mir was«, bittet sie.
    »Es ist nicht so viel passiert heute«, sage ich und werde rot. Aber Jana hat die Augen halb geschlossen, sie merkt nichts.
    »Emil und Theodora sind jetzt zusammen«, berichte ich.
    »Aha«, sagt sie leise. »Wie schön.«
    Jana findet es immer »schön«, wenn zwei Menschen »einander finden«, und wenn sie wieder auseinandergehen, schüttelt sie betrübt den Kopf und äußert ihr Mitgefühl in zahlreichen Ojes. Es hat mich immer genervt, wie sie sich durch Ereignisse berühren lässt, die sie nicht das Geringste angehen. Wenn ich sagen würde: In Puerto Rico haben sich gestern zwei Unbekannte kennengelernt, und jetzt wollen sie heiraten, dann würde sie »Oh, wie schön!« rufen. Sie meint es gut, natürlich meint sie es gut. Jana ist wirklich imstande, sich über das Glück anderer Menschen zu freuen, auch wenn sie die beiden noch nie zu Gesicht bekommen hat.
    Aber ich ärgere mich nicht über Janas Bemerkung. Ich ärgere mich auch nicht über Theodora und Emil. Nein, ich liebe Jana nicht, so weit will ich nicht gehen. Vielleicht ein bisschen. Jedenfalls weiß ich, dass sie die Jahre wert gewesen ist, dass sie noch mehr Jahre wert gewesen wäre. Hätte sie bloß den richtigen Mann kennengelernt. Sie wäre es wert gewesen.
    »Und ja, der Chef war komisch drauf heute«, erzähle ich weiter. Ich berichte von unserem Gespräch, von seinen Zweifeln, davon, wie er mich um Rat gebeten hat. »Es war beinahe, als würde ich ihm die Beichte abnehmen«, schließe ich, nicht unzufrieden mit diesem gelungenen Vergleich.
    Jana schaut mich an.
    »Die Menschen kommen zu dir«, sagt sie ernst, »weil sie fühlen, dass du einen Schritt voraus bist, dass du eine höhere Ebene erreicht hast. Du hast dich verändert , Henri. Glaub mir, ich kann das beurteilen.«
    Sie räuspert sich und fährt fort: »Weißt du, in den ersten Tagen nach der Diagnose hatte ich Angst um dich.«
    »Angst?«
    Sie nickt.
    »Du warst so fertig, als ich dir von meiner Krankheit erzählt habe. Ich hatte es selbst gerade erst erfahren, ich war ganz erschlagen, aber dich hat es viel schlimmer

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